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Psalm (vertont nach einer skandinavischen Psalmmelodie). Antje Jansen – Violine, Birgit Ströber – Gambe, Jürgen Motog – Nyckelharpa)
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Violinplayer (PDF)
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Nikolaus Harnoncourt probt Beethovens „Fünfte“ mit den Berliner Philharmonikern (PDF)
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Gedicht zum Tode von Nikolaus Harnoncourt
(Für Alice Harnoncourt zum Tode von Nikolaus Harnoncourt im März 2016)
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Styriarte/ Erinnerungen an Nikolaus Harnoncourt (PDF)
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„WIE EIN JA ZUM LEBEN SELBST“ – Beethoven, die Kammerakademie Potsdam und ihr Dirigent Antonello Manacorda (PDF)
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Ton Koopmann
Welch ein Musiker und Dirigent! Einer, der sich völlig in der Musik vergisst. Einer, der zum Kind wird, springt, lacht, der vor der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs, Mozarts oder Haydns zutiefst aufschreckt und andere erschreckt. Einer, der seine Aufregung nicht „cool“ überspielt. Dem das distanzierte Gehabe des teils sehr verwöhnten Berliner Auditoriums ganz egal ist: Die Vielen, die ihn überheblich belächeln in seiner kindlich anmutenden, heftig ausbrechenden Freude, seinem Humor, seiner Lebhaftigkeit, seiner buchstäblichen Springlebendigkeit, seinem von der Musik übervollen Herzen: ein Siebzigjähriger mit der Ausstrahlung eines Siebenjährigen, wenn er sich in die Brandung und das Meer der Musik wirft … „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“
Und: „Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Und wie kann dieses Menschenkind Orgel und Cembalo spielen!)
Hand, Mund und Herz
Welch eine Virtuosin auf der Harfe! Ihre schlanken Hände – gleich einer besonderen Art von vielfüßigen Tieren, flink und ungeheur zielsicher – eilten, strichen, rührten, griffen in die Saiten ihres vergoldeten Instrumentes – eine erstaunliche Harfenistin ging hier zu Werke, schön und schlank im langen blauen Kleid mit seinem Faltenwurf, wie bei einer der klassischen Mädchenskulpturen Schadows. Ihr Partner – ebenfalls französischer Herkunft wie sie – umwarb sie mit seiner vergoldeten Querflöte. Ein Liebesspiel ist dieses Konzert für Harfe, Flöte und Orchester C-Dur von Mozart, ein beständiges Werben, Verfolgen, Flirten, ein Sich-Vereinigen und wieder Lösen, lebhaft, temperamentvoll, leidenschaftlich, jubelnd und überschäumend, im langsamen Mittelsatz auch voller ernster, sehnsuchtsvoller Nachdenklichkeit und tiefer, träumerischer Ruhe. Von manchen Kritikern wird dieses Stück als oberflächlich und vergleichsweise unbedeutend abgetan. (Sagt das möglicherweise nicht auch etwas über diese Kritiker aus?)
Am Ende, unter der warmen Dusche des Beifalls in der Berliner Philharmonie, nahm der Flötist – ein ebenfalls gutaussehender, temperamentvoller Virtuose – spontan die rechte Goldhand der Harfenistin und drückte sie an seine Lippen – heutzutage eine ungewöhnliche, ja fast ausgestorbene Geste, erst recht auf einem Konzertpodium. Das Publikum quittierte diese Galanterie mit deutlich anschwellendem Beifall und Geraune.
Und die schöne Harfenistin? Was tat sie, schlagfertig, nein, kussfertig wie sie war? Sie drückte dem Flötisten zu dessen freudigem Erstaunen einen Kuss auf seinen Goldmund … die verdiente, einzig wahre Antwort und der einzig wahre Schluss dieser berauschenden Musik Mozarts …
(So h ä t t e es eigentlich enden müssen … doch i h r Kuss auf den Mund des Flötisten… blieb nur ein flüchtiges Bild zwischen Tag und Traum, das zur Wirklichkeit werden w o l l t e, aber es vor lauter Anständigkeit nicht schaffte.
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Jordi Savall spielt auf einer venezianischen Gambe von 1553
Zeitenferner Sang der Gambe,
gleichend glüh’ndem Kupfergold …
wehes Seufzen wie von Wüstenwind,
wie Wellenspiel am Felsenstrand
und Flüstern feierlicher Wipfel …
Ins Herz der Zeit machst Du uns lauschen,
und in der Atemstille ist’s,
als ob die Liebsten, die gegangen, nahn,
und schenkten Sein und Schöne.
Ach, Zauberwort Vergänglichkeit,
wer ihre Rätsel löste!
Doch wie Du spielst:
das ist das Rätsel und die Lösung.
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Das hörende und sehende Herz
Magdalena Kožená, der Dirigent Václav Luks und das „Collegium 1704“ in Potsdam
(Lesezeit 5′)
Ich tappte im Dunkeln, tastete mit vorgestreckten Armen und Fingern wie mit Fühlern, tastete vorsichtig Schritt für Schritt, mit meinen Füßen den Boden ab, lauschte angestrengt, um irgendetwas von dem Unbekannten, was da in der Dunkelheit an mich herankam, zu begreifen, zu verstehen … und saß doch zugleich wie festgebannt in meinem Sitz. Mein Verstand begann heftig zu arbeiten, er schnitt meinen Kopf förmlich vom Rest meines Körpers ab, der mehr und mehr zum Anhängsel zu verkümmern schien. Verstand denn irgendjemand von den vielen anderen Menschen im Saal etwas von dem, was die Sängerin auf der Bühne sang? Die Glücklichen, die ihr Programmheft mit Texten und Übersetzungen vor Augen hatten! Denn sie konnten verstehen, was die berühmte Primadonna da, teils händeringend und mit tragischer Miene, teils schelmisch lächelnd oder durch Koloraturen rasend und bebend, zum Ausdruck brachte … .
Ein Kitzeln im Hals war das erste Zeichen, das mein Körper mit seinen Etagen unterhalb meines Hirns setzte. Einzelne Worte, Seufzer und melodische Aufschreie – „Se la morte“, „Ombre, cure, suspetti!“ oder „Cosi, cosi mi tratti?“ verstand ich erleichtert. Aber wie ein ganzes Programm durchstehen, wenn man, wenn überhaupt, nur einzelne Worte vernimmt aber nichts versteht und erkennt aus der Flut von Worten und Tönen? Ich begann mich mehr und mehr wie ein Statist zu fühlen. Dort die Musiker, die Sängerin, hier ich – getrennt von mir selbst, als würde ich angestrengt in ein Schaufenster starren, in dem ich immer nur mein eigenes Spiegelbild sähe.
Beginnt nicht unser Körper sich zu wehren, wo der Verstand, die Verengung und Erstarrung der eigenen Wahrnehmung, die damit aufhört, Wahrnehmung zu sein, derartig übermächtig wird?
In diesem Moment begann er, sich eines Hustenteufelchens als Helfer zu bedienen, welches in meinem Hals und in meinen Bronchien – ein, zwei Etagen tiefer also als mein Hirn – mit einem spitzen Gegenstand meinen Schlund reizte, kitzelte und piekste. Jeder tiefere Atemzug drohte zu einem katastrophalen Ausbruch zu führen. Es hieß tapfer sein, Luft anhalten oder zumindest sehr flach zu atmen, was den Hustenteufel aber nicht beeindruckte. Er traktierte mich derart, dass mir das krampfhafte Festhalten des Atems die Tränen in die Augen trieb. Merkten die neben und hinter mir Sitzenden etwas von meinem bevorstehenden Erstickungstod, dem ich nur noch durch eine beherzte Flucht würde entgehen können? Aber warum stand ich nicht einfach auf, ließ mich gehen und flüchtete? Der Ausgang war nicht weit entfernt, ein Notausgang im wörtlichen Sinne, der Gang dorthin war frei, aber doch den Blicken einer Hundertschaft von Menschen ausgesetzt. Wollte ich mich den vermeintlich verächtlichen Blicken und Gedanken über diesen hustenden Banausen, als den ich mich nun mit einem inneren „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“ fühlte und der sich nicht in den Griff bekam, nicht aussetzen?
Noch spielte ich den Helden, aber in Wahrheit sehnte ich nichts mehr herbei als das rettende Ufer, den Schlussakkord, dort, wo Applaus und Jubel aufbranden und mein Hustenanfall davon übertönt würde. Jedoch: das konnte dauern, Land war keineswegs in Sicht. Wann endlich würde sie fertig sein, diese schluchzende, furiose Sängerin und der elektrisiert und unter Hochspannung insistierend fuchtelnde Dirigent …
Mittlerweile waren auch die unteren Stockwerke meiner Körperfestung von mehreren Hustenteufeln erreicht, ich ruckte hin und her, legte eine Hand auf meine gepresste Brust. Ruhe bewahren, gaaaanz ruhig bleiben …Dort irgendwo musste sich doch mein Herz befinden, das ich aber nicht fühlte, denn es war furchtsam zusammengeschnurzelt wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen ist. Das Bild hinkt jedoch gewaltig, denn: hier konnte ja eben nichts entweichen …
Hätte ich nur ein Programmheft in der Hand gehabt, etwas für meine Augen zum Lesen, zum Begreifen und etwas zum Festhalten für meinen Verstand. Aber ich tappe im Dunkeln –„Cosi, cosi mi tratti …? – fühle Erbitterung – oder vielmehr: ich huste den Veranstaltern etwas, die nicht in der Lage sind, Programmhefte für einen Abend mit „Stars international“ in ausreichender Anzahl zu drucken. Sie und niemand sonst sind Schuld an meinem Hustenanfall und daran, dass diese Musik zu meinem Gegner geworden ist.
Ich blicke gequält auf die Streicher. Für Momente erkenne ich mit einem Anflug von Erstaunen, was sich im Innern des Schaufensters abspielt, in dem ich mich bis dahin nur selbst gespiegelt gesehen hatte. Was die Finger und Arme der Musiker an Bogenstrichen und Griffen da vollführen – synchron wie ein Schwarm Stare am Abendhimmel – ergibt Klanggesten – Wirbel, Saltos, Sprünge, Kaskaden und Lachsalven, Tränenflüsse oder wehe Seufzer – erschafft eine seidig-glänzende Hülle aus unfassbar reinen Harmonien und leuchtenden Farben, denen Logik und tanzende Verbindung, genauso aber auch Brüche und Überraschungen innewohnen – ein wild entschlossenes, akrobatisches Drängendes Etwas, das um die Statue der Sängerin herumwirbelt, dann wieder sich an ihre schlanke, in ein blaues Gewand gehüllte Gestalt anschmiegt, sie streichelt, ihr liebkosend durch die blonden Haare streicht, sie beschirmt oder den Himmel über ihr öffnet, zu dem sie ihre Augen aufschlägt …
Immer noch verstehe ich kein Wort von dem, was sie singt, aber jetzt – als hätte der Dirigent Magnesium und Phosphor in die Glut geworfen – sprüht eine feurige Lohe auf, fällt wieder zusammen, eine Flamme züngelt, wird wiederum knisternd größer, schlägt hoch hinauf mit lodernder Helle und Gluthitze …
Doch so jäh, wie die Flamme aufschoss, so plötzlich ist auch wieder geschrumpft – nur noch ein in sich zusammengefallenes Flämmchen jetzt, ängstlich flackern, bebend, aufzuckend, nahe am Verlöschen, flüsternd … „Che dolce foco in petto oltre I‘ usato io sento …“
Ich höre ein lautes Klopfen, ein schlagendes Herz …Tod der Liebe, Liebe des Todes, des Sterbens; eine Geliebte, die ich zu meinem größten Erstaunen plötzlich hoch oben an der Decke des Saales schweben sehe wie in einem Gemälde Chagalls. Sie schaut entrückt auf die rasenden Leidenschaften, das tiefe, in sich versunkene Trauern und Lacrimosa, das Lebenstableau ihres eigenen Liebens, Hassens, eifersüchtigen Verlangens, Sehnens und Verlierens, das durch ihren Körper und ihre Stimme hindurch weht wie ein Sturm ..
„Arianna, Maria dolorosa, Angelica, Dido, Ero …“, all diese leidenschaftlichen, legendären Frauengestalten mit ihren Kostümen, Masken, Staffagen, Marmorbildern und Gemälden stoßen diese Musiker um, zerbrechen, zerwühlen, zerreißen sie, um sie auf Neue in Fleisch und Blut zu gebären: von Augenblick zu Augenblick, von Ton zu Ton, von Akkord zu Akkord, von Rezitativ zu Arie und von Arie zu Rezitativ – in einer Musik, in der Leben und Tod, Licht und Schatten, Frühlingssehnsucht, Sommergluten, Herbststürme und Winterstarre um die Menschenseele ringen und kämpfen …
Meine Ohren beginnen, den Raum weiter und weiter zu öffnen, den die Klänge und Farben der Musik geben und nehmen – ihre Zäsuren, die Abgründe der Stille zwischen dem Windzügen des Atmens, den gezackten Schlägen, Stichen und den zuschnappenden Atemgeräuschen des Dirigenten, auf die die Streicher mit scharfen Attacken antworten … Anläufe und Bremsungen, erneute Anläufe, Absprünge, ein wirbelnder Flug oder ein selig reigendes Schweben, das aus den vereinten Bogenbewegungen und dem eilenden, unfassbar leichten Tanz der Fingerkuppen auf den magischen Punkten der schwarzen Griffbretter der Violinen entspringt …
Spätestens hier war es, dass ich des synchronen Übersetzers oder Souffleurs in mir gewahr wurde. Schwerlich aber hätte ich ihn bemerkt, wenn ich auf die gedruckten Texte fixiert gewesen wäre, denn der Blinde – der, dem die Augen verbunden sind, ist gezwungen, lauschen zu lernen, mit einem anderen Organ als dem Ohr hinzuhören. Denn wer anderes wohl als mein Herz hätte dieser Übersetzer und Souffleur sein können, der mir Verstandesblinden zur Hilfe gekommen war … Ich hatte ein anderes Augenlicht bekommen: aus dem „Écoute avec le coeur“ war nach und nach das „Voir avec le coeur“ geworden.
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Traum und Leben
In einer Schule begegnete ich Simon Rattle. Er stand etwas abseits und beobachtete eine Gruppe von Frauen, die einen Kreistanz einstudierten. Ich sprach ihn vertraulich an mit „Hey Simon!“ und bezog mich dabei auf ein Konzert unter seiner Leitung anlässlich des Tags der offenen Tür in der Berliner Philharmonie, bei dem ich vor einigen Jahren im Projekt-Orchester mitgewirkt hatte. So war der Ton zwischen ihm, dem Nahbaren, und mir doch gleich vertraut, obwohl er sich unmöglich meiner erinnern konnte. Er äußerte sich skeptisch gegenüber dieser Art des Tanzens: „Nicht mein Ding„, sagte er, und es klang trotzdem wohlwollend. „Something is wrong.“ Ich konnte ihm nur zustimmen. Später übernahm er in einem Klassenraum, in denen sich ein Flügel und ein Cembalo befanden, den Unterricht, wobei er schwierige mathematische Zusammenhänge schlüssig erklärte – ungewöhnlich genug, da wir von ihm eher musikalische Erörterungen erwartet hatten.
Der Autor und Regisseur unserer Träume zitiert oft in unseren Träumen aus unseren Sinneseindrücken. Aber: Darf ich deshalb als Co-Autor, Regieassistent und Darsteller meiner Tages- und Sinneswelt das Umgekehrte tun und aus meinen Träumen zitieren? Täte ich’s aber nicht: Was wären denn dann Ideale, Bilder, Gedichte, Musik, Kunst, die Verbindung und Liebe zu Menschen, zu mir selbst, zur Natur …?
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BEGEGNUNGEN MIT DEM DIRIGENTEN NIKOLAUS HARNONCOURT im Spiegel des Traums
Notwendiges Vorwort:„Träume sind, wie C.G.Jung erklärt, so paradox das auch scheinen mag, wenn man daran denkt, wie bizarr manche Träume in Form und Inhalt sein
können -, Träume sind objektiver und verzerren die Wirklichkeit weniger als
die Gedanken, die wir im wachen Zustand haben. … Wenn man den Inhalt
von Träumen wiedergibt, dann schildert man etwas, das man empfangen hat,
eine objektive Botschaft, die (wie der Träumende richtig sagt) ihm im Schlaf
begegnet ist. Niemand ist für seine Träume verantwortlich …“ .(Yehudi Menuhin im Gespräch mit Robert Daniels. In: „Ich bin fasziniert“ von allem Menschlichen“. München 1982)
Meine Faszination von der Figur des Dirigenten, des Pfarrers, des Lehrers:
wie oft waren nicht Lehrer auch Dirigenten oder Dirigentinnen: auf dem
Gymnasium, während der Grundschulzeit in der Blockflötengruppe, im
Posaunenchor, der sangesfreudige Pfarrer Althoff, der hunderte von
Gottedienstbesuchern kraft seiner Stimme zum Singen animierte, aber
genauso zum Stillwerden, zum In-sich-gehen; ein ritualisiertes Wort
genügte, und eine ganze Gemeinde erhob sich widerspruchslos, einhellig,
sprechend oder singend, nachsprechend oder singend antwortend.“
Warum folgte man diesen Impulsen des Pfarrers gerne, ja, wartete freudig
darauf? Warum – bei anderen Personen – fühlte man dagegen Druck, das
Müssen, den Zwang der Konvention und die Macht der Gewohnheit, den
Leerlauf des Rituals, dessen hohl gewordenen Automatismus?
Ganz gleich, wo einer leitend steht – ob vor Flöte spielenden
Grundschülern, Jungbläsern im Posaunenchor, vorm einfachen
Kirchenchor, im Kirchenschiff vor der Gemeinde oder im Konzertsaal vor
den Philharmonikern – entscheidend ist, ob und wie der Dirigierende
befreiend oder bindend, lösend oder fesselnd agiert. Wesentlich ist, w i e
er oder sie handelt. Ob unterm Erfolgszwang oder dem Drang, gute Figur
zu machen, ob unterm Zwang von Vorgaben und Traditionen (“Das
machen wir hier schon immer so“… oder „Das ist hier so üblich“) oder ob
er seinen eigenen Impulsen folgt, die sich aus Hingabe, Liebe,
Begeisterung für eine Sache, eine Idee, ein Werk ergeben und aus der
Sympathie für die Menschen, die er zu gewinnen sucht zum Teilhaben und
Teilnehmen, zum Lernen, zum Aufnehmen, zum Werden und Entstehen
einer Sache, eines Projektes, eines Werkes, einer Aufführung …“ !
Immer lag und liegt für mich eine der größten Faszination darin:
w i e ein Mensch seine Impulse, seinen Willen ausdrückt und mit anderen
dadurch in Beziehung kommt, oder auch n i c h t, sondern sie stattdessen
bremst oder gar verhindert …
3. Mai 2020
Ich treffe Nikolaus Harnoncourt in meiner Heimatstadt, um ein Interwiev mit ihm zu führen. Er ist auf der Durchreise, die Zeit, die uns bleibt ist daher sehr begrenzt. Unter anderem geht es um die Frage, ob Kreativität, kreative Erfindung, Komponieren im Team, mit einem Partner nicht nur wünschenswert, sondern überhaupt möglich und fruchtbringend sei. Ich weiß: würde ich das als zugespitzte These formulieren, wäre die Reaktion H.’s vorhersehbar: ein vehement ausgesprochenes „Nein, das ist unmöglich!“ Als offene Frage aber beginnt nun zwischen N.H. und mir eine Erörterung des „Für und Widers“. H. äußert am Ende die Überzeugung, dass es beides brauche: ein Gegenüber, ein DU, aber auch die ausschließliche Konzentration auf sich selbst. Musizieren? Am besten zusammen! Komponieren? Am besten allein! Improvisieren? Ein „Sowohl-als-auch“ von Ich, Du und Wir. H. meint, es gäbe immer einen Punkt, an dem sich die Wege verschieben würden, weil einer der beiden vorausginge aufgrund einer Idee, welcher der Partner dann folgen würde oder folgen müsse – andernfalls würden sich die Geister scheiden.
Nun heißt es, eilends die Post und den Bahnhof zu finden. H. hat noch einen Brief aufzugeben. Der Haupteingang der Post jedoch ist aufgrund von Baunmaßnahmen abgesperrt. So eilen wir, – ich halte Harnoncourt an seinem linken Arm untergefasst – sofern von „Eilen“ bei dem vorgeschrittenen Alter des Dirigenten möglich ist – um das Gebäude herum, um den provisorischenZugang ins Innere zu finden. Den mir unbekannten Weg zum entfernten Bahnhof zu finden bereitet mir zusätzlich Sorge, denn H. m u s s unbedingt rechtzeitig am Bahnhof sein, um seine Zugverbindung zu bekommen … .
11. Januar 2019
Traumbegegnung auf der Zeitmembrane mit Nikolaus Harnoncourt. Nach einem anregenden Gespräch verabschiedeten wir uns mit einem verbindlich-herzlichen „Auf Wiedersehen am nächsten Sonntag beim Konzert“. Dabei ergriff mich zugleich mit der Freude Traurigkeit: wir hatten ein Wiedersehen verabredet, das es nach meinem Erwachen nicht geben konnte und geben würde …
17.2. 2004
Ich besuche eine Probe eines Kammerorchesters. Am Dirigentenpult erkenne ich Nikolaus Harnoncourt. Das ist also der Concentus Musicus, der da spielt? Gespannt lausche ich. Endlich einmal, so hoffe ich, finde ich Gelegenheit, den Dirigenten persönlich anzusprechen, ihn „zwanglos“ oder beiläufig um die Signierung eines seiner Bücher zu bitten, das ich zufällig bei mir trage.
Ich erfahre, dass er abends in einem Konzert in Osterholz- Scharmbeck nahe Bremen zu hören sei. Entschlossen fahre ich dorthin, halte an einem Waldparkplatz, wo viele kleine Hütten stehen. Ein Schild weist drauf hin, dass es sich hier um einen Hundefriedhof handelt. Dort also „liegt der Hund begraben“!? Welcher?
Meine beiden Begleiter sind schon vorausgegangen, einen Weg hinauf in Richtung eines Bachtales. Dort irgendwo vermute ich den Ort, an dem der Concentus spielen wird. Ich selber klettere noch ziemlich halsbrecherisch in dem Bachtal herum. Dabei verschmiere ich mir in dem kalkigen, schweren Lehmboden die Schuhe. Entsprechend mühsam ist deren Reinigung. Durch die Zweige einer verästelten Baumkrone klettere ich dann auf einen Felsen hinauf, der dabei bedenklich schwankt. Oben angelangt ist mein erhofftes
Ziel, der Ort des Konzertes, nicht in Sicht. Wo kann ich nun weiter suchen? Ich frage eine Gruppe von Wanderern, die mir daraufhin den Weg beschreiben. Ob ich wohl noch so rechtzeitig mein Ziel erreichen werde, um eine Eintrittskarte zu ergattern? Der Concentus Musicus in dem kleinen Kaff Osterholz-Scharmbeck nahe Bremen …!
3.4.2006
Hans Abegg, ein alter Bekannter aus Lippstädter Zeiten und Mitglied des Posaunenchores wie ich einst, begegnet mir. Er berichtet von seinen Studien am Orff-Institut am Salzburger Mozarteum, wo auch Harnoncourt Lehrer war.
Dann erzählt er von einem Konzert des Concentus Musicus Wien, das am Abend in Dortmund im Konzerthaus stattfände. Entschlossen mache ich mich auf den Weg dorthin (60 km).
27.12.2005
Ich hielt mich in einem großen, abgelegenen Haus auf: groß und geräumig, zugleich uralt, mit Holzfußböden, Öfen, ja sogar Tasteninstrumente – vom Klavier, Klavichord, Cembalo bis zum Spinett – stehen dort. Dort begegnete ich N.H. Wir sprechen über das Rückwärtsgewandte und die Rückwärtsgewandheit als Seelenhaltung, dann sachlich, kritisch-distanziert, geht es um aufführungspraktische Fragen.
9.1.2006
In einem Gespräch mit Harnoncourt sage ich: „Was Ihnen gelungen ist – selbst auf der Schallplatte – ist: dass man aufhorcht und hinhört. Unverwechselbar die Klangfarbe, der Impetus, das dynamisch-klangliche „Relief“ der Instrumente – verglichen mit vielen anderen Aufnahmen so verschieden wie ein Säugetier sich vom Insekt unterscheidet: Ein andere Gattung. Mittlerweile höre ich Ihr Orchester nach wenigen Sekunden heraus. Ich weiß leider nicht mehr, wann ich begriff: H i e r ist die Musik. Vielleicht mit der Aufnahme der Matthäuspassion, vor allem in der Arie „Mache dich, mein Herze, rein…“
20.2.2006
Ich hörte einem Gespräch zwischen Nikolaus, Alice Harnoncourt und Anne Sophie Mutter zu. Letztere im Bewusstsein ihrer Bedeutung: „Es gibt auf diesem Planeten keinen Menschen, der besser Geige spielt als ich. Geiles Gefühl.“
Darauf Harnoncourt ganz trocken zu seiner Frau: „Papas Beste!“
20.3.2006
In der Berliner Philharmonie füllten sich die Plätze sehr schnell. Auch wir suchten unsere Plätze, die jedoch seitwärts auf dem Podium im Rücken des Orchesters lagen. Nur ein kleiner Spalt gab noch die Sicht auf die Musiker frei, und so erreichte uns auch nur ein Teil der Musik. Diese wurde darum elektronisch verstärkt, was jedoch hörbare Verzerrungen aus den Lautsprechern zur Folge hatte. Wie könnten wir nur an bessere Plätze kommen?“
Jetzt betrat der Dirigent das Podium – Harnoncourt im hellgrauen Jacket. Applaus brandet auf. Zunächst sehe ich ihn nur von hinten, bis er sich auch zu uns hinwendet und uns dankend zuwinkt. Wichtig ist mir, seinen Augenausdruck zu sehen – was mir von meinem Platz aber verwehrt bleibt. Es gibt Schuberts frische mozartsche 5. und Bruckners 8. Sinfonie. Die Philharmoniker atmen unter freien, befreienden Händen.
27.7.2007
Nikolaus Harnoncourt ist zu Besuch in meiner einstigen Dorfschule in A. Er wirkt viel jünger als ein Mann „in den Siebzigern“. Wir unterhalten uns, am Zaun stehend, während die Kinder Hofpause haben, über den Sinn von Schule. Er beginnt ein feuriges Plädoyer für die Ganztagsschule zu halten. Ich bin da jedoch ganz anderer Meinung. Unsere Diskussion verläuft unbefangen, ohne die fatale Distanz, die die Bewunderung oft schafft.
Ich rufe meine Freundin Anne hinzu. Wann je hätte denn wieder so eine gute Gelegenheit, diesen Dirigenten persönlich kennenzulernen? Sie erzählt ihm, wie es einmal anlässlich eines Dirigierkurses schon beinahe zu einer Begegnung mit ihm gekommen sei. Die beiden verstehen sich sehr gut. Neben dem fachlichen Austausch entwickelt sich nämlich auch ein ausgelassener Humor. Beide beginnen im Verlauf des Gesprächs, aberwitzige Grimassen zu schneiden, die ich quasi in Großaufnahme betrachte. Dabei machte ich aber nicht mit, beobachte mehr, ja, fühle mich fast ein wenig außen vor gelassen und gebremst. An beiden beeindruckt mich die ungebremste Lebendigkeit, die lebhafte Kraft, mit der sie ihre Gedanken äußern und die Pointen durch Gestik und Mimik zum Ausdruck bringen. Mir aber wird an dem Dialog der beiden sehr bewusst, in welch engen Bahnen das Denken und Fühlen in der Schule doch verläuft… Wie alt war Harnoncourt, als er aus dem verödenden Orchesterbetrieb ausstieg?
21.6.2007
Ich nehme Platz in einem Konzertsaal, der einem Amphitheater gleicht. Dort sitzt Nikolaus Harnoncourt in der obersten Reihe als Zuhörer. Gedanke: Kann ich den einfach ansprechen?
29.7. 2007
Probe mit Nikolaus Harnoncourt und dem Concentus Musicus. Ein ausgefallenes Stück wird geprobt. H. fordert mich auf, dabei den Dudelsackpart zu spielen. Das setzt mich einesteils in Verlegenheit, da doch mein Dudelsack noch kalt und somit noch nicht gut intoniert ist. Auch weiß ich nicht, ob die Grundtonart passen wird. Die Probe verläuft derweil lebendig und engagiert. Harnoncourts ungebremste Energie strömt und weht wie Wind und Windstöße in die Musik.
Ich verharrte noch abwartend. In meiner Aufregung komme ich zunächst nicht auf das Einfachste und Naheliegenste, nämlich, einfach den Probensaal kurz zu verlassen, um das Instrument draußen einzuspielen und einzurichten. Als hätte er meine Not und den wachsenden Druck gespürt, fordert H. mich und eine Gruppe von Musikern auf, eine extra Stimmprobe in einem anderen Raum abzuhalten … Erleichterung!
27.12. 2007
Ich befand mich in einer Konzertprobe mit Nikolaus Harnoncourt in der Lippstädter Marienkirche, genauer, in der vergrößerten Sakristei. Die Oper „Alceste“ von Gluck wurde geprobt. Ich bin zwar lediglich G a s t h ö r e r, sitze jedoch mitten im Orchester und erlebe die Musiker aus nächster Nähe. Später probiere ich selbst ein Instrument, doch ist mir entfallen welches. Eine Gruppe von Kindern benimmt sich dabei völlig undiszipliniert. Harnoncourt beginnt sich schließlich die Haare zu raufen, da die chaotischen „lieben Kleinen“ einfach nicht still sitzen können. Selbst seine Autorität versagt an dieser Stelle gänzlich.
31.10 2014
Gemeinsam mit der Geigerin C. F., einer alten Freundin von mir, begegne ich Nikolaus Harnoncourt. Cornelia versetzte diese Begegnung in helle Aufregung. Ihr Gesicht rötet sich stark, während wir in einem Garten zu dritt gemütlich an einem Tischchen sitzen. Mit großen, weit geöffneten Augen, intensiv zuhörend betrachte ich Cornelia, wie sie den Worten des Dirigenten lauscht, während er über Spinoza und dessen Lebensphilosophie spricht.
Abrupter Szenenwechsel: Probe mit den Berliner Philharmonikern. Es ist ein Mittwoch Vormittag – der freie Tag des Chefdirigenten. So hätte Simon Rattle eigentlich Zeit, zuzuhören. Harnoncourt beklagt sich vor dem Orchester: „Der Rattle war noch nie bei einer Probe von mir. Jetzt hätte er doch mal Zeit, und da kommt er nicht!“
3.1.2014
Im Morgentraum zusammen mit einer befreundeten Geigerin in Vorbereitungen zu einem Konzert „Bach meets O’Carolan“ an der Schuke-Orgel in der Philharmonie. Der Saal ist fast leer. Lediglich einige Arbeiter machen sich an der geöffneten Saaldecke mit Isolierungsarbeiten zu schaffen. Dabei fallen Staub, Dreck und Mäusekot herunter, auch auf den Spieltisch der Orgel. Ich versuche das, so gut es geht, wegzupusten und zu wegzuwischen.
Beim Probieren des Eingangsstückes habe ich das Gefühl, dass mir das große Instrument in keiner Weise entgegenkommt. Die Bank ist rutschig und ich versuche vergeblich in einen richtigen Abstand zu den Manualen zu kommen, bei dem ich Halt habe. Auch scheint mir die Anordnung der vielen Register chaotisch und unlogisch, so dass sich die Registrierung meinen Vorstellungen kaum fügt – mal klingt es zu laut, mal zu schwach, dann wieder ist der Klang ohne Substanz und Dichte. Fatales Überforderungsgefühl: Wird das alles hier vielleicht nicht einige Nummern zu groß für mich?
Zuvor, vor diesem Probieren und Proben hatte ich ein Gespräch mit N.H., der mir dabei erzählt, wie es ihm mit der Post und Geschenken seiner Verehrer ergehe. Unmöglich sei es, diese zu beantworten, selbst die zugesendeten handwerklichen Arbeiten – gekonnte, schöne Schnitzereien darunter – könne er nicht würdigen, es sei einfach zu viel, und es bliebe ihm keine Zeit mehr. Er habe aber für mich ein Geschenk: eine bisher unveröffentlichte Fuge von Bach, vierstimmig gesetzt. H. zeigt mir die druckfrischen, noch nicht geschnittenen und gefalteten Bögen, erschienen bei Döbereiner (?) in Wien (ich schlug nach: es muss der Doblinger Verlag in Wien sein). Ich lege die Blätter aufs Notenpult eines Cembalos und spiele das Thema, die nach und nach einsetzenden Stimmen langsam und getragen, ohne Fehlgriff, eine wunderbar innige Musik.
Später spielt H. daraus, mit vielen Verzierungen, die seine rechte Hand so unmerklich ausführt, dass selbst mein genaues Hinschauen, wie er das hinkriegt, mir keinerlei Aufschluss gibt, wie sein so leichtes Spiel möglich ist.
Zuvor hatte ich, während ich in einem Saal einem Vortrag lauschte, überlegt, wo H., seine Frau Alice und einige Damen vom „Concentus“ unter den versammelten Zuhörern sitzen. Soll ich mich zu erkennen geben, namentlich, mit Hinweis auf einen Workshop 2007 in der UDK, wo er mir eine sehr ausführliche Antwort auf meine Nachfrage zum Verhältnis von ausgeschriebenen und tatsächlich gespielten Notenwerten im Autograph von Mozarts Posthornserenade gegeben hatte? Das könnte peinlich werden – unmöglich, dass er sich meines Gesichtes erinnert, obwohl wir uns im Vortragssaal sehr lange anblicken, wie zwei alte Bekannte, die sich nach längerem wiedertreffen und die Veränderungen im Gesicht des andern wahrnehmen. Worum geht es aber in dem Vortrag? Es scheint ein pädagogisches Thema zu sein. Denn als ich wenig später mit drei Geigerinnen des „Concentus“ ins Gespräch komme, finde ich mich schnell in der Rolle des Pädagogen und gebe mich als Lehrer für Kinder im Grundschulalter zu erkennen. Wie bringt man die Kinder zu kräftigerem Singen? Das ist z.B. eine der Fragen, die wir lebhaft erörtern. Dabei kommt das Akkordeon ins Gespräch – für Harnoncourt ein unmögliches Instrument, da es die Kinderstimmen förmlich totschlage. Das bringt er mit nachdrücklichem Furor heraus. Dagegen wende ich ein, dass es für Tanzmusik und Kindertänze sehr wohl geeignet sei und versuche ihn vollends zu überzeugen durch die Erwähnung der Bach-Aufnahmen des italienischen Akkordeonisten Babarena … (Anmerkung: 10 Tage später erhielt ich unerwartete Antwort von N.H. und seiner Frau auf einen langen Brief zu seinem 85. Geburtstag.)
6. 7. 2005
Im Morgentraum ist N.H. zu Besuch in meiner Berliner (Traum-)Wohnung. Da gibt er Hinweise zur Interpretation der Posthornserenade von Mozart. Der Schauplatz wechselt vexierbildhaft: wir sind plötzlich in meinem Elternhaus in Lippstadt. Distanz und freundschaftliche Verbundenheit ist gleichermaßen spürbar. Ich bitte ihn um eine Widmung in einem seiner Bücher bzw. in eins seiner Bücher ü b e r ihn. Am liebsten hätte ich in j e d e m der Bücher seine Widmung. Wo aber sind die Bücher bloß? Die alten Räumlichkeiten in der Fleischhauerstraße vermischen sich mit den Gegenwärtigen. Zunächst gehen H. und ich in mein altes Jugendzimmer. Dort treffen wir meinen Bruder, dem ich meinen Gast vorstelle. Dieser aber scheint gar keine Ahnung zu haben, wen er hier vor sich hat. Freundlich-konventionell, ja gleichgültig bleibt der kurze Kontakt. Ich suche vergebens nach meinen Büchern, währenddessen erzähle ich aber davon, w i e ich die Schriften finde.
Endlich habe ich sie gefunden. Doch in welches der Bücher soll nun die Widmung? Mir scheint nämlich, als sei nur e i n e einzige Eintragung möglich, und ich müsse mich entscheiden. In „Was ist Wahrheit“?? Es ist das äußerlich unscheinbarste Buch, ein schmales Bändchen, doch im Traum erfühle ich’s als sein wichtigstes Werk …
20.10.2005
In einer riesigen, halligen Kirche während eines Konzertes Begegnung mit Nikolaus Harnoncourt. Er wirkt erheblich jünger als in Wirklichkeit, ist unkonventionell gekleidet. Während wir auf einer Galerie oder Empore sitzen und zuhören, kommen wir ins Gespräch über die Hardangergeige, ihre Musik und deren eigenartige Rhythmik mit ihren besonderen Bewegungsimpulsen. Ob er, der gerade auf Urlaubsreise in Norwegen war, die Hardangerfiedel – Musik kennengelernt habe? Er verneint, zeigt aber großes Interesse und so erzähle ich über das Instrument und seine Besonderheiten und berichte von meinen Hör -und Seherlebnissen mit einem Geiger und einer Gruppe von Tanzpaaren in Valdres. Das alles scheint für diesen Klangforscher von großem Interesse zu sein.
Ob wir ihm zufällig noch einmal über den Weg laufen werden auf einer der Reisestationen? Als das Konzert zuende ist und alle dem Ausgang zustreben, begegnen wir uns nochmals, diesmal jedoch unpersönlich, fast abweisend, als hätten Gespräch und Begegnung zuvor nie stattgefunden …
31.12. 2002
Nikolaus Harnoncourt probt für eine Inszenierung. Er bittet mich, die geprobte Szene zu beobachten. Dabei gibt er mir eine Beobachtungsaufgabe, die ich jedoch aufgrund verschiedener Fremdworte, die er einfließen lässt, nicht verstehe, allenfalls nur vage erahne, worum es geht. In der Szene, die ich nun mitansehe, probt H. mit einem kleinen Jungen. In mir wächst derweil die Verunsicherung: Wenn ich nicht weiß, worauf mein Fokus liegen soll, kann ich nur meinen Vermutungen und vagen Spekulationen folgen anstatt unvoreingenommen zu beobachten.
Gefühl wie vor einer Prüfung, in die ich unzureichend vorbereitet hineingehe …
27.10.2013
Ich bin im Wiener Musikinstrumentenmuseum und bestaune dort die herrlichen, alten Cembali, Klavichorde usw. Plötzlich sehe ich Nikolaus Harnoncourt über den Flur eilen. Er wirkt jung und frisch, ein Mann in den besten Jahren, angetan mit einem weißen Hemd. Am Ende des Flures verschwindet er in einer Tür, und mir scheint, als wäre er dort in der angrenzenden Wohnung zuhause.
Ich komme nun in ein Gespräch mit zwei mir unbekannten Besucherinnen und machte sie auf H. aufmerksam.
„Haben Sie gesehen, wer da gerade vorbeikam? Das ist Nikolaus Harnoncourt gewesen, der Dirigent“ bemerke ich. „Ich glaube, dass er hier wohnt. Das passt sehr gut zu ihm, so Tür an Tür mit den alten Instrumenten.“
Die Wohnungstür, durch die er verschwand, steht, wie ich nun erst bemerke, weit offen, und ich blicke gespannt und neugierig hinein. Ich sehe dort viele Menschen versammelt. Das widerspricht doch aber sehr meiner Annahme, dass dies seine Privatwohnung ist. Doch was hat es mit dieser Versammlung auf sich? Ich rätsele herum. Ein Kolloquium? Konzertbesucher? Oder Workshopteilnehmer? In diesem Augenblick kommt der Hausherr und Gastgeber aus dem Innern der Wohnung auf mich zu und bittet mich sehr freundlich, doch einzutreten.
Wurde er auf mich aufmerksam, weil ich meine bunt-auffällige Lapplandmütze trug? Worauf mag sich sein Interesse gründen und ihn zu einer persönlichen Einladung veranlassen? Als hätte er meine unausgesprochene Frage vernommen, sagt er: „Ich habe vorhin im Museum ihr starkes Interesse an den alten Instrumenten bemerkt.“
Das Innere der Wohnung, die ich nun betrete, ist überaus stilvoll mit vielen alten Renaissancemöbeln – lauter ausgesuchten Stücken – eingerichtet. An einem kleinen Tischchen mit H. sitzend genieße ich das Glücksgefühl der unverhofften Begegnung. Es hat etwas von dem anrührenden Charakter seiner ersten Begegnung mit Goethe, die der Norweger Henrik Steffens beschreibt. „Was ist wertvoller als Gold? Das Licht. Was ist wertvoller als Licht? Das Gespräch!“
3. April 2016
Im Morgentraum Nikolaus Harnoncourt, den ich zu einer Lesung in den „Hof an der Aue“ bei Bremen eingeladen habe. Die Zeit bis zum Beginn ist knapp bemessen; der Raum, die Bestuhlung sind noch nicht hergerichtet, und ich muss mich noch am Cembalo einspielen und das Instrument stimmen.
N.H. ist schon da, schwarz gekleidet, entspannt und freundlich. Er wird aus Mozart- Briefen lesen.
Erstaunlich ist seine Anwesenheit aber nun doch, weniger wegen des Anlasses einer Lesung und der ungewöhnlichen Lokalität, die ja seinem Rang nicht entfernt angemessen ist, sondern weil ich weiß, dass er ja vor kurzem erst verstorben ist – nun aber hier quicklebendig anwesend ist.
Das scheinen die Hofbewohner aber gar nicht zu realisieren bzw. zu wissen.
Typisch ist, dass ich alles auf den letzten Drücker tun und organisieren muss, während N.H. sehr gelassen abwartet, wie sich die Dinge entwickeln.
12.4. 2016
Ähnlich wie im Traum vom 3.4. wundere ich mich, dass der doch unlängst Verstorbene lebt. Ich werde ihn in einem Café am Gendarmenmarkt in Berlin treffen, wo er auf mich wartet.
(Da erwache ich mit dem Impuls s o f o r t aufzustehen, um ihn dort ja nicht zu verpassen; als ich einen Augenblick später realisiert habe, dass es nur ein Traum ist, stehe ich sofort auf, um den Traum aufzuschreiben (andernfalls droht nämlich Verblassen und Vergessen).
11.5. 16
Sehr früh erwacht. Zuvor sitzen NH und ich aneinandergelehnt und unterhalten uns über die Komposition Mozarts „a la Turka“. Wir stellen Mutmaßungen über die Quelle, den Ursprung, das Vorbild zu diesem Stück an, eine beinahe kriminalistische Indiziensuche. Dann ein im Traum überraschender Einfall: Ich mutmaße, dass das Stück gar kein Vorbild hat , es sei – im Gegenteil – s e l b s t Vorbild, Ursprung, Anregung für spätere Stücke, auch anderer Komponisten. NH gefällt dieser Gedanke: dass ein vermeintlich Späteres zum Ursprünglichen, Vorbild oder Urbild wird. Der Einfall und NH.s Resonanz geben dem ganzen Gespräch eine Wendung in Leichte, Freudige …
3.8.16
Mein Freund A.B. betritt gemeinsam mit NH einen Raum. Er schaut mit sehr lebendigen Augen umher, zu wem er kommt. A. hat Harnoncourt stützend untergefasst. Ich wundere mich darüber, nicht ohne eine Anflug von Eifersucht. Warum hat mir A. gar nichts erzählt? I c h hätte NH doch abholen können, zumindest aber wir gemeinsam. So bleibt mir nur die Rolle des Zuschauers …
6.10.2015
Nikolaus Harnoncourt lädt provokant zu einer brainstorming-Runde ein. Sein Impuls ist, den eingefahrenen Musikbetrieb durch schlagkräftige Parolen zu entlarven und zugleich zu reformieren: Thesen, die eine neue Richtung weisen. Obwohl sich all dies in ganz privatem, lockeren Rahmen zuträgt – NH bereitet etwa eigenhändig einen Salat für die Teilnehmer der Runde – gehört doch Mut, Unbefangenheit und schlagfertiger Witz des Formulierens dazu, um in so einer Runde zu bestehen.
Ich frage, ob ich ein Foto von ihm machen dürfte, woraufhin er zustimmt. Unterdessen arbeitet es schon kräftig in mir. Aber kein geistreicher Einfall will sich einstellen. In mir bleibt es leer …
Ich beginne, innerlich am „Rad der Assoziationen“ zu drehen: ein immer gleicher, wiederholter Satz, der mein assoziatives Denken wie ein Dynamo in Aktivität versetzen soll. NH – wie immer offen und zugewandt, macht jedoch keinen Druck: die Zeit der alten Autoritäten sei vorbei. Na t ü r l i c h e Autorität sei es jetzt, auf die es ankomme …
8.11. 2017
In einer Probe unter NH, gemeinsam mit anderen Musikern. Dabei entspinnt sich ein Gespräch über den zeitgenössischen Komponisten Haas, einen Österreicher, dessen Werke mehrfach in der Philharmonie unter Simon Rattle aufgeführt wurden. Nach einer Weile entfernt sich H., denn er hat, wie jemand weiß, als Dank an uns etwas Kulinarisches vorbereitet bzw. er ist, gemeinsam mit seiner Frau Alice, dabei, dies zu tun.
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Bernhard Haitink probt Gustav Mahlers „Neunte“
Gestern Tag der offenen Tür in der Berliner Philharmonie. Sechs Jahre ist es her, dass wir – 100 Musikerinnen und Musiker aus Wer-weiß-wie-viel Ländern – zum damaligen Tag der offenen Tür unter Simon Rattle spielten, mit unvergesslicher Intensität. Gestern nun war der Besucherandrang so groß, dass sich an allen Eingängen lange Schlangen gebildet hatten. An einen Einlass ohne erhebliche Warterei war nicht zu denken, also verfolgte ich das diesmalige Konzert des BE-Phil-Orchesters – 100 Musikerinnen und Musiker aus 32 Ländern – von einer Wiese aus auf einem riesigen Bildschirm vor der Philharmonie, zeitgleich also zum real concert im großen Saal.
Die Wiese, auf der ich halb sitzend, halb liegend neben und mit vielen anderen Menschen lausche, bietet ein buntes Bild: spielende Kleinkinder, tratschende „Zehlendorfer Witwen“, die doch auch endlich vor Brahms Feuer seiner 1. Sinfonie verstummen müssen, eine junge Farbige, die in Noam Chomskys Buch „Profit over people“ vertieft ist, während sich „Brahms over people“ entlädt und viele Menschen, deren Haltung konzentriertes Zuhören und Hinsehen verrät; für mich eine merkwürdige Sicht von Außen auf etwas, was ich doch ganz von Innen kenne mit dem Erlebnis von 2012: die Anspannung, das Gefühl, an etwas Einmaligem teilzuhaben und in der kontrollierter Extase, die durch gemeinsames Musikmachen möglich wird, „abzuheben“; die Landung am Ende im euphorischen Jubel des Publikums, getragen von der Erfahrung, dass der Probenweg dorthin, geführt von Simon Rattle und Stanley Dodds, eine höchste Herausforderung an Anspruch und Vertrauen bedeutete …
Eine andere Innenansicht sind die Probenbesuche … beim Warten auf den Beginn der Probe zu Mahlers „Neunter“ in der Kantine geht, nein, schreitet Bernhard Haitink mit seiner viel jüngeren Frau untergehakt zum Dirigentenzimmer. Er wird gleich die Probe leiten, wohl eine Art reduzierter Generalprobe, denn ein solches Werk könne man nicht zwei Mal am Tag durchspielen, wie mir einer der Musiker verrät. Große Kakophonie auf dem Podium; noch eilen einzelne Musiker zu ihren Pulten … Läufe, Triller, Fanfarenstöße der Blechbläser, das Durcheinanderbrummen der Kontrabässe und näselnde Cellopartien über einem gleißenden, wogenden Streichermeer …
Schlag 16:15 Uhr betritt Haitink das Podium. Alles verstummt in wenigen Augenblicken, die Musik setzt wie aus dem Nichts ein. Das Dirigat des Hochbetagten ist sachlich, ohne jede Pose. Er dirigiert stehend. Nur während des letzten Satzes benützt er den hochbeinigen Hocker, halb stehend, halb sitzend. Ein Werk von rund 90 Minuten Dauer fordert seinen Tribut. Das Orchester ist sehr groß besetzt, allein fünf Schlagzeuger sind am Werk. Die Blechbläser, in prächtiger, strahlend-homogener Form, sind beständig gefordert.
Haitink hält diesen riesigen Orchesterapparrat mit vergleichsweise sehr ruhiger, bedächtiger Zeichengebung scheinbar mühelos zusammen, selbst bei den komplexesten und mächtigsten Partien. Wie er wohl seine Blicke, sein Augenspiel einsetzt? Wo andere Dirigenten toben, rudern, springen und dirigierartistisch agieren würden, wirkt Haitink offensichtlich durch eine andere Kraft: nämlich durch die Kräfte der Idee, der Klang- und Entwicklungsvorstellungen – sie sind es wohl, mit denen er den „Apparat“ zusammenhält, lenkt, fordert, impulsiert. Nur seine linke Hand, deren Gestus mich manchmal an Furtwängler erinnert, verrät die innere, hochgesteigerte, vibrierende Erregung. Sicherlich weiß der große, alte Mann dort am Pult um die Grenzen, die ihm sein Alter setzt und die ihn mit seinen physische Kräften haushalten lassen.
Mahlers Musik wirkt auf mich wie die Erzählung einer große Lebensreise, die schließlich ins Astrale übergeht, ins Überirdische, in eine glühende Streicherintensität im Finalsatz, sich aufschwingend in Steigerungen, harmonische Verdichtungen und ungeheuerliche Potenzierungen, die nur im Gleichnis erahnbar.
Später, wieder im Auto, durch den Abendverkehr. Nässe, hektische Lichter, Hupen, eine Ordnung, mühsam gehalten durch Hindernisse, Baustellen, Beschilderungen, sich stauende Fahrzeugschlangen, in denen sich die egozentrisch treibende und nach Vorsprung gierende Energie der vielen einzelnen Fahrzeuglenker und ihrer Maschinen zwangsweise zu e i n e m Wesen zusammenschließt, und von Ampel zu Ampel, von Kreuzung zu Kreuzung sich vorwärts presst, vorwärtsschnellt, ein lauter, brausender, stinkender Schwarm … Auch dies scheint in Mahlers Musik schon „gesehen“, benannt, bebildert; die Fahrt im Zwangskollektiv des großstädtischen Feierabendverkehrs verbindet sich mit der Musik zu einer Fortsetzung dessen, was in der Sinfonie ablief, voller Entsetzen und Entzücken, erschreckend oder erhebend oder beides zugleich, am Ende sich auflösend, allen Zwang und Druck, alles Grelle, Rasende, Gierige, ruhelos Treibende und Ziellose wie Schlacke hinter sich lassend … (Mai 2018)
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Fundstücke über einen jungen Studenten:
Der Dekan der Universität Straßburg Stöber im Juni 1772 über einen seiner Studenten:
“ …. dieser hat eine Rolle hier gespielt, die ihn als einen überwitzigen Halbgelehrten und als einen wahnsinnigen Religionsverächter nicht eben nur verdächtig, sondern ziemlich bekannt gemacht. Er muss, wie man fast durchgängig von ihm glaubt, in seinem Obergebäude einen Sparren zuviel oder zuwenig haben. Um davon augenscheinlich überzeugt zu werden, darf man nur seine vorgehabte Inauguraldissertation „De Legislatoribus“ lesen, welche selbst die juristische Fakultät …. unterdrückt hat; weil sie hier nicht hätte können abgedruckt werden anders, als dass die Professoren sich hätten gefallen lassen, mit Urteil und Recht abgesetzt zu werden.“
Dieser „Halbgelehrte und aberwitzige Religionsverächter brauchte wohl diesen „einen Sparren zuviel oder zuwenig in seinem Oberstübchen“, um in dieser Zeit nicht nur seine Dissertation zu verfassen, sondern auch den „Götz von Berlichingen“ und zwei Jahre später den „Werther“ zu dichten, um mit diesen Dichtungen zwar kein Jurist, aber zum europaweit gefeierten, anerkannten Autor zu werden … . Wer kennt heute noch den damals mächtigen Dekan Stöber?
Ungefähr zur selben Zeit erkennt Wilhelm Heinse denselben jungen Mann: so:
“ ...ein schöner Junge von fünfundzwanzig Jahren, der vom Wirbel bis zu Zehe Genie und Kraft und Stärke ist; ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer mit Adlersflügeln, der in der unerschöpflichen Fülle des Ausdrucks stürmt.“
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Traumbegegnungen mit Rudolf Steiner
Rudolf Steiner als Notarzt
Ich fuhr mit einem Motorrad samt Anhänger, in dem ein erkrankten Engländer saß, durch den Teutoburger Wald. Als ich mich umdrehte, war der Engländer in sich zusammengesunken. War er tot? Zur Vergewisserung hielt ich an. Sein Körper war noch warm; der Tod konnte gerade erst eingetreten sein. Was tun? In diesem Augenblick näherte sich Steiner und begann entschlossen mit einer Reanimation in Form einer Herzdruckmassage. Dabei wies er mich hin auf ein über der Herzregion des Engländers schwebendes, aus sich selbst heraus leuchtendes goldenes gleichschenkliges Dreieck.
„Auf dieses Dreieck kommt es an bei der Reanimation, nicht so sehr auf das physische Herz,“ erläuterte Steiner. Mit dieser übersinnlichen Herzkraft müsse man sich verbinden, und zwar mithilfe eines intensiv vorgestellten Begriffes, eines magischen Wortes. All dies erklärt Steiner nüchtern und unaufgeregt, während er die Reanimation (übrigens erfolgreich) durchführte.
Rudolf Steiner als Lehrer
Rudolf Steiner sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer meines Elternhauses und unterhält sich mit meinen Eltern. Ab und zu wirft er mir Blicke zu, voller distanzierendem Ernst, voller Mißbilligung, wie mir scheint, so als würde er sagen: „ Du bist weit von mir entfernt. Wenn du s o bist, kann ich dich noch nicht gebrauchen.“
Dann in einer Schulklasse – draußen ist es noch oder schon wieder(?) dunkel; ein Gewitter scheint aufzuziehen. Ich sitzt in einer der hinteren Bankreihen. Die meisten meiner Mitschüler und Mitschülerinnen sind mir unbekannt. An der Tafel versucht uns Steiner eine mathematische Gleichung verständlich zu machen. Es handelt sich um ein Verhältnis zweier Zahlen, genauer: zweier Brüche. Dabei spricht er mit größter Eindinglichkeit und Intensität, die sich im Tonfall immer mehr steigert: Verstehen Sie? Das m ü s s e n Sie verstehen! Es hängt alles davon ab, dass Sie das begreifen!“
Ein Mann erhebt sich darauf von seinem Platz, sehr erregt wird er fast handgreiflich gegenüber Steiner, während er – jetzt fast außer sich – ausruft: „Sie wollen doch die freie Marktwirtschaft abschaffen und den Kommunismus einführen!“
Der Angegriffene entbrennt darauf immer leidenschaftlicher, geht auf und ab und durchbohrt mich förmlich mit den eindringlichsten Blicken. Ich fühle, wie er in mich hinein zu schauen versucht, um zu sehen, ob ich das geforderte Verständnis aufbringen kann. Ich g l a u b e, dass ich seine Ausführungen verstanden habe,aber vor solch eindringlichen Blicken fühle ich doch eine starke Verunsicherung.
Steiners Ausführungen erreichen schließlich ihre höchste Steigerung, indem er wiederholend ausruft: „Man muss müssen! Man muss müssen!“ Dabei betont er die scharfen s- Laute sehr übertrieben.
Während er so spricht – ich spüre, dass er gleich verstummen wird- dringt von draußen ein höchst eigenartiges, andauerndes Geräusch herein. Mein erster Gedanke: rollende Panzer, und ich richte mich auf, um zu sehen, was draußen vor sich geht. Entwarnung: es sind ja nur Fahrzeuge mit Anhängern, auf denen Paddelboote transportiert werden. Doch im letzten Augenblick sehe ich tatsächlich einen Panzer mit rotem Stern auf der Frontseite. Er verschwindet im nächsten Augenblick hinter einer Mauer, als wolle er sich dem Erkanntwerden schnell entziehen
Das Klassenzimmer ist in ein höchst eigenartiges , flackerndes, auf und abschwellendes Licht getaucht. Steiner verlässt den Klassenraum mit den Worten, er müsse jetzt fortreisen. Darüber entsteht eine Bestürzung, da keinerlei Klarheit darüber besteht, ob nun eine russische Invasion stattfindet oder nicht. Von draußen dringen weiterhin die Motorengeräusche in den Raum, und auch das Licht verändert sich beständig. Der Mann, der Steiner des Kommunismus beschuldigte, verfolgt Steiner. Die Klassenzimmertür steht noch einen Spalt weit auf. Der Mann bleibt nur für kurze Zeit weg, dann kommt er zurück, und berichtet, er habe Steiner und dessen Frau Marie noch angetroffen. Irgendetwas aber muss ihn bei dieser Begegnung derart berührt haben, dass er nun völlig verwandelt wirkt, wie ein Erleuchteter – keine Spur, keine Äußerung mehr von seiner vorherigen Gegnerschaft.
Die Photographie im Header von Nikolaus Harnoncourt ist ein Geschenk Alice Harnoncourts.