Musik erklingt im Hauch des Schilfrohrs, Musik erklingt im Sprudeln des Baches, Musik erklingt in allen Dingen, wenn die Menschen sie hören könnten. (Lord Byron)
„Blue Nile“ mit Christoffer Sonnen (Sax., Flöte), W. König( Bass), Martin Christophery (Drums) und Jürgen Motog (Fender Piano). Augustinerklosterkirche Lippstadt, 1977
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Inhaltsverzeichnis
1.Die Engelgleichen
2.Vögel sind keine Autisten
3. Kraniche – Boten des Glücks
4. Heimkehr
5. Die Musik der Vögel – Vögel in der Musik (Vortrag während der Vilmer Sommerakademie 2017 des Bundeamtes für Naturschutz)
6. Mittsommermusik in Sanssoussi
7. Karfreitagszauber in Väst-Götaland
8. Die Bergnymphe von Tiveden
9. Wassermusik
10. Morgenfeier
11. „Die Vögel sind das Gegenteil der Zeit“
12. Die Vögel in der Musik
13. Musik der Vögel und der Menschen
14. „Ewiges Wort – Ewiger Sang“ – Über das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ und eine „Aria“ von J.S.Bach)
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Die Engelgleichen
Nicht Drahtesel mehr – das war einmal. In den sich überbietenden Epochen mit ihren Entwicklungen zum „höher- schneller- weiter“, die auch vor dem Fahrrad nicht haltgemacht haben, lautet es wohl passender: Stahlross. Ich habe mich nach dem Abendessen nocheinmal auf den Sattel geschwungen und radle nun auf einer kleinen, kurvigen Landstraße, die an meinem temporären gotländischen Zuhause vorbeiführt, aufs Geratewohl los. Ein Wegweiser besagt, dass ich nach etlichen Kilometern in Dalhem mit seiner großen Bauernkathedrale ankommen werde, doch – den Rückweg eingerechnet – wäre es bei meiner Heimkehr dann wohl Mitternacht. Dalhems Kirche mit ihrer großen, warm klingenden Orgel kommt also ein anderes Mal dran.
Jetzt gleite ich ziellos die unbekannte Straße dahin, voller absichtsloser Neugier Neuland erfahrend. Mich auf zwei Rädern unterm weiten, hohen Himmel des frühen Abends fortzubewegen, ohne Motorengeräusch, begleitet nur vom leisen Singsang der Bereifung auf dem Aspalt, das hat etwas vom zeit- und schwerelosen Dahinschweben der gefiederten Wesen, erst recht dann, wenn ich meine Hände vom Lenker löse – eine freie Bewegung, zu der ich fast nichts mehr hinzutun muss, und die mir die Freiheit gewährt – der Vorteil des glatten Asphaltes – meinen Blick erhobenen Hauptes frei über die weite Landschaft schweifen zu lassen, ohne auf Schlaglöcher achten zu müssen, was meine Augen notgedrungen zur Erde hinunterzwingen würde.
Aber nicht vogelfrei fühle ich mich, denn das bedeutete ja angstgetriebener Verlust aller Zugehörigkeit – doch frei und lustvoll wie ein Vogel im Flug, wie etwa jenes ferne balzende Kolkrabenpärchen in seiner übermütig attackierenden Verfolgungsjagd. Ihr heiter-glockiges „Korr korr“ wird vom aufgespannten Resonanzraum der klaren, tief -blauen Unendlichkeit über mir kilometerweit getragen …
Eine Kirchturmspitze wird zwischen einer Baumgruppe sichtbar. Wenig später öffne ich die quietschende Pforte zum Kirchhof von Halla. Der merkwürdige Zwitterbau aus romanisch-gedrungenem Langhaus und dem hohen Anbau mit seinen gotischen Chorfenstern liegt still träumend im kupfergoldenen Abendlicht, Besonntes und Beschattetes scharf voneinander sondernd – diese Trennschärfe von Licht und Schatten, die den langen Sommerabenden des Nordens ihre unfassbare Klarheit und Reinheit verleiht, – Sehnsucht und Sehsucht gleichermaßen immer von neuem weckend, Jahr um Jahr, Sommer um Sommer, näher dem Leuchten einer von rasendem Wahn und Wirrnis befreiten Ewigkeit im Augenblick.
Als ich nun aufschaute, entdeckte ich sie, aufstaunend, die Engelgleichen. Sie schienen im völlig lautlosen Flug versunken in den Tanz eines Reigens, unhörbar dessen Musik, ein schwebendes Kreisen, Steigen und Hinabgleiten reiner, weißer Geflügelter, die sich in den Aufwinden des vom tagsüber aufgeheizten Gemäuers selig wiegten – ein Schwarm von vielleicht zwei, drei Dutzend reinweißer Sturmmöwen, wie auf einer Himmelsleiter über dem Kirchenbau auf und absteigend …
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Vögel sind keine Autisten
Ein Waldgang wie mit Komponisten- und Dirigentenohren. Der alte, lichte Mischwald ist in seinem frischen, lichtdurchfluteten Grün nie schöner als zu dieser Jahreszeit. Die Buchen-, Eichen-, Birken-, Ulmen-, Akazien- , Robinien- und Kiefernbestände oberhalb des Sees, die das hohe Steilufer des ehemaligen Urstromtals der Havel bedecken, sind erfüllt von vielfältigen, lebhaften Vogelstimmen. Ein Stoßseufzer: „Wenn ich bedenke, dass Messiaen an die achthundert Vogelstimmen zu unterscheiden wusste …“ .
Aber gerade dieses Nichtwissen bewirkt wahrscheinlich eine gewisse Offenheit für die Bezüge, die Verbindungen der Vogelstimmen untereinander. Da sind zwei Solisten – geniale oder virtuose Melodiker (Schwarzdrossel, Rotkehlchen), die durch ihre jeweilig unnachahmlichen Erfindungen über die anderen Stimmen herausragen. „Die beiden geben den Ton an – wie virtuose Oberstimmen in einem barocken Konzert. Die anderen kommentieren, nehmen einzelne Motive auf, oder stimmen auf ihre ganz eigene Weise zu. Aber alles scheint sich um diese beiden zu drehen. Das sind die Hauptstimmen, die Themen … Der da zum Beispiel (Zilp Zalp) ist ein Rhythmiker, der spielt ein ostinates Motiv, eine Zustimmung.“
Schlagartig aber ist in einem Abschnitt reinen Kiefernwaldes die polyphone Komposition verstummt, Nur von weit draußen überm See ist der heisere Schrei des Reihers zu hören, diesem unmusikalischen Eigenbrötler …
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KRANICHE – Boten des Glücks (PDF, Lesedauer ca. 7′)
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Heimkehr
Stampfend, rollend, ratternd und zitternd am ganzen Körper wendete sich der gewaltige Stahlkoloss mit dem Bug dem Anleger zu, und in dem offenen Fensterausschnitt, einem Bilderrahmen gleich, erstaunte ich über ein Gemälde hoher Transparenz an räumlicher und zeitlicher Tiefe, einer Partitur gleich, die allein durchs Schauen lebendig wird und zum Klingen kommt. Polyphon und doch harmonisch, voneinander gesonderte und geführte, zeit-räumlich verfließende Bewegungen, unterschiedlichen Stimmen und Klangfarben gleich – und ich selbst nahm mich als den Spieler war, der dies im Augenblick hervorbrachte, wahrnahm, erlauschte, erschaute, erstaunte – das tiefe Glück der Zugehörigkeit zu einem Ganzen, im Morgenglanz des Hier und Jetzt.
Am Horizont spannte sich der leuchtende Lichtbogen der Morgenröte, die den seit fernsten zeitlosen Zeiten immer aufs neue aufsteigenden Sonnenball ankündet; das Schiff hatte sein Wendemanöver geendet und nahm nun langsam Fahrt auf, vorbei an den schier endlosen zementierten zyklopischen Kaianlagen, vertäuten Frachtschiffen, Kränen und Türmen, den aufgestapelten Bauteilen von Windrädern, Lagergebäuden und Schuppen, den Werfthallen und Asphaltstraßen, gesäumt von tausend künstlichen Sonnen, deren nüchterner Schein allmählich verblasste, während ein im Winde auf und ab gaukelnder unübersehbarer Schwarm von Möwen dem Fährschiff Geleit gab.
Sonnen- und Erdbewegung, die im Winde vorüberziehenden Vögel, das riesige Schiff, das mit dem Sonnenlauf vorbei an der technischen Sphäre aus Beton, Stahl und Eisen auf den Anleger zuglitt, und ich selbst, ruhend inmitten dieser so unterschiedlichen Bewegungen und Lebensrhythmen, die doch alle einem Thema und einer Harmonie gehorchten … gleich einem Aquarell, in dem Menschenwerk, Wasserelement, die Jagd der schreienden Seevögel, die aufleuchtenden Wolken, Raum, Zeit und Ich – ein jedes mit seiner Zeit – miteinander verbunden waren.
Neben mir erschien auf einmal ein Vater mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm. Der Vater, von der Morgenstimmung berührt, sprach wenige Worte in einer mir fremden wohlklingenden Sprache zu seinem Jungen, und darin schwang, ebenso wie im Ausdruck seiner Augen, unmissverständlich die Schönheit des Morgenglanzes mit.
Aus dem Lautsprecher erscholl jetzt blechern und kratzend die Aufforderung, sich in die Fahrzeuge zu begeben. Ich war wieder zurück in dieser Welt …
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DIE MUSIK DER VÖGEL – Vögel in der Musik – ein Vortrag gehalten während Sommerakademie des Bundesamtes für Naturschutz und der Universitäten Kiel und Tübingen auf der Insel Vilm/ Rügen am 12. 7. 2017 (Lesedauer ca.45′)
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Mittsommermusik in Sans Soussi
Jenseits des Lärms der sommerlich schwärmenden Stadt öffnete sich unvermittelt ein neuer, stiller Raum. Nur eine Stimme noch vernahm ich hier, im verwunschenen Marly-Garten, und endlich glaubte ich zu verstehen, wovon und warum sie sang: „Keine Gefahr, keine Angst wohnt hier, nur Schönheit und Einklang von Himmel, Erde, Ich und Du …“ . So ähnlich verstand ich das Lied der Amsel. Monique und Hans Dossenbach schreiben allerdings in „Das wunderbare Leben der Vögel“: „Aber natürlich singen die Vögel nicht für uns. Für mehr als die Hälfte aller Vogelarten ist der Gesang das wichtigste Mittel für die Paarbildung. Er hat grundsätzlich zwei Funktionen: Er dient als akustische Waffe bei der Besetzung des Brutreviers und dazu ein Weibchen anzulocken.“
Woher hatten die beiden ihre unumstößliche Sicherheit?
Ach, hätten die Nüchternen einmal gekostet, alles verließen sie und setzten sich zu uns an den Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird. (Novalis)
Oder Konrad Lorenz: „Wir wissen wohl, dass dem Vogelgesang eine arterhaltende Leistung bei der Revierabgrenzung, der Anlockung des Weibchens, der Einschüchterung von Nebenbuhlern zukommt. Wir wissen aber auch, dass das Vogellied seine höchste Vollendung, seine reichste Differenzierung dort erreicht, wo es diese Funktionen gerade nicht hat. Ein Blaukehlchen, eine Schama, eine Amsel singen ihre kunstvollsten und für unsere Empfindungen schönsten, objektiv gesehen kompliziertesten gebauten Lieder dann, wenn sie in ganz mäßiger Erregung „dichtend“ vor sich hinsingen. Wenn das Lied funktionell wird, wenn der Vogel einen Gegner ansingt oder vor dem Weibchen balzt, gehen alle höheren Feinheiten verloren; man hört nur eintönige Wiederholungen der lautesten Strophen, wobei bei den sonst spottenden Art wie dem Blaukehlchen die schönsten Nachahmungen völlig verschwinden und der kennzeichnende, aber unschön schnarrende angeborene Teil des Liedes stark vorherrscht. Es hat mich immer wieder geradezu erschüttert, dass der singende Vogel haargenau in derselben biologischen Situation und in eben d e r Stimmungslage seine künstlerische Höchstleistung erreicht wie der Mensch, dann nämlich, wenn er in einer gewissen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt, in rein spielerischer Weise produziert.“
Wenn eine Schlange singen könnte, so erklängen nach erfolgreicher Häutung Oktaven. Während der Häutung, beim Kriechen durch enge Spalten, um die alte Haut aufzureißen und loszuwerden: chromatische Folgen, barocke Seufzermotive.
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Karfreitagszauber
Nördlich vom westgötaländischen Börstorps Slott, im 17. Jahrhundert durch den Freiherrn von Falkenberg errichtet, mündet der Friån in den Vänersee. Dunkel und unergründlich schlängelt das überraschend schnell sich verbreiternde Flüsschen, von hohen Schilfgürteln gesäumt, heimlich am Schloss vorbei. Nach wenigen Kilometern, während derer er Bruchwald, Wiesen und urwaldartiges Gebiet durchströmt, vereint sich der Friån gegen Norden mit dem mächtigen See in einer stillen, weit sich öffnenden Bucht, die nach etwa zwei Kilometern von der unbewohnten Insel Kiholmen und in östlicher Richtung von der Halbinsel Surö begrenzt wird. Nur selten veriirt sich ein Motorboot in in dieses abgelegene Gebiet. Untiefen und dicht unter der Wasseroberfläche lauernde Felsen halten ortsfremde Skipper oder Angler ab, dort herumzufahren, und so haben Biber und der scheue Seeadler hier ihre Jagdgründe.
Auf der teils sumpfigen, teils waldig-felsigen Halbinsel aber findet sich eine wundersame, große Hallenkirche, welche besonders im Frühling und Herbst die wenigen Besucher und Wanderer mit ihren herrlich durchleuchteten, weiten Gewölben überrascht und immer wieder anzieht. Der Buchenwald von Surö gilt vielen als der nördlichste in Schweden. Mag das nun stimmen oder nicht – der Schönheit und Harmonie des lichten Forstes, der sich zum Vänern hin mit urtierartigen, geschwungenen Felsformationen öffnet, täte es keinerlei Abbruch, wenn diese vom alten Falkenberg im 17. Jahrhundert angelegte Buchenwaldhalle nicht der nördlichste Standort der Buche wäre … .
Hier ist das Revier des Dachses und von Sing- und Greifvögeln wie dem großen Schwarzspecht, dem Buchfink, der Singdrossel, dem Rotkehlchen, der Blau- und Kohlmeise, des Waldkauzes, Uhus und auch der Schwarzdrossel. Letztere liebt die höchsten, ufernahen Zinnen dieser Waldkathedrale, von wo aus sie – ebenso engelgleich wie erdgebunden – in die unbegrenzte Weite des offenen Binnenmeeres hinein ihren Sonnengesang anstimmt, den Wald und die felsige Uferregion als Klangverstärker nutzend.
Die Bucht von Surö liegt im Windschatten von Kiholmen, und so ist es auch bei stärkeren Nordwestwinden, die tagsüber hier stark auffrischen können, bevor sie sich zum Abend beruhigen, recht windgeschützt. Im Frühjahr hält sich darum hier in Börstorpsviken und vor Surö die Eisdecke des Sees länger als an weniger geschützten Stellen, die – oft in nur ein, zwei stürmischen Frühlingsnächten – krachend aufbrechen und an den Ufersäumen bergeweise klirrende Eisschollen aufhäufen. Tiefblau, mit weißem Schaum gekrönt unter der samtblauenden Tiefe des wolkenlosen Himmels, rauscht dann der aufgebrochene See in befreitem Jubel und in einer Frische, schön wie am Schöpfungstage.
Ganz anders aber an diesem Karfreitag. Es ist windstill, der Himmel erscheint in einem lastenden, monotonen Grau, die ganze Natur ist auf Moll gestimmt. Als ich vom Landweg aus den Weg durch den lichten Wald mit den hohen, silbergrau glänzenden Säulen zum Ufer nehme, lässt mich ein unerklärliches, summendes Grollen innehalten und lauschen. Je mehr ich mich, den Wald verlassend, den frei daliegenden Uferfelsen nähere, umso mehr schwillt das Summen an. Ich blicke über die geschlossene Eisdecke, von der das Murren und Grummeln herkommt. Weit draußen sehe ich die schon offene Wasserfläche. Jetzt ein jähes Aufstöhnen, gleich darauf ein schussartiges Knallen … . In der Eisfläche hat sich ein langer, klaffender Riss aufgetan, in dem das Wasser schwappt. Wieder ertönt nun, an- und wiederabschwellend, das beklemmende Grummeln und Grollen. Es ist die gespannte Eisdecke, vom bewegten Wasser darunter in Schwingung versetzt, die diesen dunklen Eisgesang angestimmt hat. Da – wieder ein Knall, diesmal weiter entfernt, in dem sich die Spannung entlädt. Das Grollen ist leiser geworden, und in dessen Decrescendo mischt sich nun – erst jetzt werde ich dessen gewahr – der schmelzende Gesang einer Schwarzdrossel. In der Spitze einer hohen Erle, nahe beim Ufer, entdecke ich ihre Silhouette. Sie singt ihr Air in die Abendstille, weithin tragend, dann wieder drei, vier Sekunden pausierend, auf Antwort eines entfernten Du lauschend – eine einsame und doch lichte Stimme, in der schon Österliches tröstlich mitschwingt … .
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Die Bergnymphe von Tiveden
Ich zählte – fünf, sechs, sieben Sekunden … bis zur neuerlich eintretenden Stille, setzte mein Instrument wieder an, blies den Grundton, die Oktave …, und auch mit den Augen verfolgte ich, wie der Klang an den bewaldeten und felsigen Ufern des Stora Trehörningen entlangwanderte, ferner und ferner tönend und vervielfacht hin-und herfluktuierend, um schließlich wieder von der großen Stille aufgenommen zu werden. Wohin waren die Töne und ihre vervielfachten Echos geflossen? Der weithin tragende Klang, das wandernde, allmählich verklingende, höchst erstaunliche Echo öffnete den Raum, den See, die Inseln, Felsen, den Wald, den Himmel darüber ganz neu, und für die Dauer der enstandenen Stille wirkte die Natur magisch erweitert und vertieft, von Kräften und Ordnungen erfüllt: die Zeitmembran war durchlässig geworden. Echo, die Bergnymphe, Tochter der Hera, hatte ihre Klagelaute der Sehnsucht nach Narzissos angestimmt …
Die uralte Vorstellung, dass mit den Tönen eines Hornes oder auch von Glocken u.a. Unheil, Unwetter, Dämonen abgewendet werden konnten. Dass ein Ton Schwingungsmuster erzeugt, geometrische Ordnungen hervoruft, ist eine bekannte Tatsache. Welcher Art ist der Raum, der von Klang, von Tönen erfüllt wird, jenseits des hörbaren Klangs?
Räume, die nach den Gesetzen des Klangs – singende Steine also – gebaut sind und ihre potenzierende Wirkung: z.B. die Berliner Philharmonie, die Kathedrale von Chartres, Fountenay in Burgund, St. Michael in Hildesheim …
Ein Raum wie etwa der große Saal der Berliner Philharmonie wirkt ohne hörbare Musik und ohne Publikum auf mich geradezu magisch. Das meint auch: Der weitgehend menschenleere Raum in seiner Stille scheint mit Musik förmlich aufgeladen, auch dann, wenn kein einziger Ton erklingt.
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Wassermusik
Unvermittelt – trotz warmen Sonnenscheins – begann leichter Regen in dicken Tropfen vom Himmel zu fallen. Ich schaute überrascht auf: perlengroße, silbern funkelnde Tropfen fielen mir aus dem tiefen Blau des Himmels entgegen. Die kleine, lichtgraue Wolke am Himmel, zu klein jedoch, um die Sonne zu verdunkeln, musste die Quelle dieser Regentropfen sein. Auf dem dunkel-kupfergoldfarbenen Wasser des westgotländischen Stora Trehörningen Sees mischte sich das leise, allmählich anschwellende Tröpfeln der himmlischen Perlen wie immer dichter aufeinanderfolgende Triangelschläge und steigerte sich zu einem weichen, melodischen Rauschen. Die irisierenden Wasserblasen, die sich mit jeder Berührung jedes einzelnen Tropfens mit der Wasseroberfläche aufwölbten, gaben dem See einen millionenfach aufblitzenden Glanz, ein sprühendes Auffunkeln, so, als wolle sich mit jedem Tropfen ein Stück Himmel im Kleinen wölben, um dann in der großen Einheit des in kreisende Schwingung versetzten Wasserspiegels aufzugehen.
Mal war der Regen stärker und dichter, dann wieder schwächer, um dann für einige Minuten wieder ganz zu versiegen. Die Welt des Sonnenscheins schien wieder in Ordnung. Wenig später aber näherte er sich erneut, wie ein Schleier langsam heranrauschend: gleißender, klingender, singender und schwingender Regen, Tropfen wie in Märchenbüchern gemalt, wo jeder Tropfen ein Gesicht hat und ihm ein eigenes Wesen innezuwohnen scheint, und nur darauf wartet, sich mit Wonne fallen zu lassen, um beim Aufschlagen aufs Wasser einen möglichst schönen Ton anzuschlagen, metallisch und doch zugleich weich: eine zärtliche, musikalische Berührung der Haut des Sees, ein myriadenfaches leises Trommeln mit unsichtbaren Fingern, das den See in still kreisende, sich durchdringende Schwingungen versetzte. Und wir: kindlich staunende, stumme, lächelnde Zeugen, vergessend unsere immer nasser werdende Kleidung, hingebungsvoll gebannt vom stillen, freudigen Klang dieser Himmelstränen, die nach und nach zu unseren Eigenen zu werden schienen …
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Morgenfeier
Spiegelglatt lag der See im Lichte des frühen Morgens da. Leichte Dunstschleier schwärten über der weiten Wasserfläche und den bewaldeten Höhenzügen. Tiefe Stille über der Grundierung des fernen Rauschens der Autobahn. Die durch die hohen Buchen- und Eichenstämme und Baumkronen hereinflutende Sonne öffnete im Spiel ihres Lichtes mit den Schatten und dem Gegenlicht mir bislang unbekannte, ungesehene Räume. Mir fiel der wunderbare barocke Choral ein: „All Morgen ist ganz frisch und neu …“. Die Natur kennt keinen Alltag. Ihr Wesen ist die Feier. Der Rest ist menschengemacht, von mir, von Dir, von uns allen: Verödung, Zersiedelung, Vernutzung, Missbrauch, bis hin zur scheinbar unwiderruflichen Zernichtigung. Ach, dieses Unwiderrufliche … ! Dagegen die vierte visionäre Sinfonie des Dänen Carl Nielsen: „Das Unauslöschliche“, komponiert ab dem Jahre 1914 und uraufgeführt 1916, mitten im ersten Weltkrieg. Wie recht und wie unrecht zugleich Nielsen hatte mit seiner ungeheuren musikalischen Vision … . Das Werk stellt heute wie damals eine Zumutung an die Hörer dar … .
Die Entsprechung am Abend dazu? Vielleicht Feierabend – eins der schwingungsfähigsten Wörter unserer Sprache, mit dem Resonanzraum des Spätsommers.
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„Die Vögel sind das Gegenteil der Zeit …“
Beobachtungen und Gedanken zum Gesang der Vögel (Lesedauer 10′)
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. (Novalis)
Schon seit einigen Wochen singen sie wieder, die geflügelten, dem Lichte, der Leichtigkeit und Freiheit verbundenen Wesen, gleich erdverbundenen Engeln: unsere Singvögel, die jetzt im Crescendo des grünenden Frühlings unsere Gärten, Parks und Wälder und die grünen Inseln in unseren Städten mit ihrem Gesang, ihrem Zwitschern, Zetern, Pfeifen, Trillern, Klopfen, Krächzen und Tirilieren beleben.
Und wer kennt von all den gefiederten Sängern, Percussionisten und Melodikern, die an dieser Stelle ungenannt bleiben müssen, nicht sie oder ihn: die Schwarzdrossel, zur Familie der Amseln gehörig – sie, die schwarzgefiederte Königin, besser: den König (denn das Männchen ist der eigentliche Sänger) mit seinem prächtig orangefarbenen Schnabel, dessen leuchtender Farbton einem erscheint wie eine Abfärbung seiner lichten Tonmotive …
Die Amsel oder Schwarzdrossel ist ein wahrhaft königlicher Sänger – an Erfindungsreichtum und musikalischer Lernbegabung der nachtzauberischen Nachtigall gleich, wenn nicht gar überlegen, wenn man den Forschungen über die Amsel folgt (z.B. denen von Heinz Thiessen und David Rothenberg.)
Verzaubert und verherrlicht die äußerlich so unscheinbare Nachtigall mit ihrem elegischen Gesang die Mondnacht und die in ihrem Schutz sich Liebenden, so tut dies die Amsel mit dem Gestirn des Tages.
„Die Amseln haben Sonne getrunken/ Aus allen Gärten strahlen die Lieder,/ In allen Herzen nisten die Amseln,/ Und alle Herzen werden zu Gärten/ Und blühen wieder./
Nun wachsen der Erde die großen Flügel/ Und allen Träumen neues Gefieder,/ alle Menschen werden wie Vögel
/ Und bauen Nester im Blauen.
Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge/ Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne.
In allen Seelen badet die Sonne,
/ Alle Wasser stehen in Flammen,/ Frühling bringt Wasser und Feuer liebend zusammen.“
(Max Daudenthey, 1868 – 1918)
Sie beginnt schon vor Tagesanbruch ihren schmelzenden, weithin tragenden Gesang anzustimmen, wenn die Nacht noch dunkel ist, so, als könne sie den Sonnenaufgang kaum erwarten. Vielleicht ist sie genarrt durch die künstliche ewige Sonnenhelle unserer Straßenbeleuchtungen und verfrüht sich irrtümlich? Auch an bedeckten, schwül-warmen Tagen mit Sommerregen erklingt ihr beschwörender Sonnengesang. Mit dem Höhersteigen der Sonne entfaltet sie ihre Aktivitäten dann wieder im Licht und Schattenspiel um die Mittagszeit herum; später am Abend feiert sie den Abschied vom Tag, und ihr eMelodien werden eins mit der Ruhe und dem letzten Licht und Farbenspiel der untergehenden Sonne.
Kein Baumwipfel, keine Tannenspitzen, kein Hausgiebel und keine Straßenlaterne sind dabei der Schwarzdrossel hoch genug, um sich wirkungsvoll zu platzieren. Und wie liebt dieser Vogel neben der sichtbaren und exponierten Thronlage auch die Höfe und Straßenzüge z.B. in Berlin, deren hohe Fassaden und Mauern einen herrlichen Resonanzraum abgeben, der dem Klang doppelte Stärke zu verleihen vermag. So erlebte ich einmal nachts an einer belebten Straßenkreuzung eine erstaunlicherweise noch singende Amsel, die hoch oben auf dem Ampelmast sitzend über dem dumpfen Motorenlärm der wartenden und anfahrenden Autos sich mühelos Gehör verschaffte – durch geschlossene Autofenster hindurch!
Ihr Gesang im Übergang vom Vorfrühling in den Frühling, der vom Geläute der Meisen markiert wird, verstärkt noch den Zauber des alljährlichen Neuanfangs in der Natur nach der langen, todverwandten Winterruhe.
Unvergesslich bleibt mir ein vorösterlicher Amselgesang am schwedischen Vänersee, wo sie noch ein Waldvogel ist, nachdem sie in unseren Breiten schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts aus den Wäldern in die Gärten, Parks und Städte emigrierte – ein Phänomen, das seit einigen Jahren bei vielen Vogelarten zu beobachten ist: Zurück in die Stadt!
Vor mir liegt eine noch vereiste Bucht, während weit draußen das Binnenmeer eisfrei und wieder offen ist. Der auflandige Wind wirft weiße Schaumkronen auf. Doch hier, im Windschatten bewaldeter, lang hingestreckter Felsenufer und einer kleinen Insel, ist es dagegen ganz windstill. Es ist ein grauer, vorösterlicher Spätnachmittag, dessen Stille jedoch von einem immer wieder unheimlich an-und abschwellendem donnerartigem Grollen unterbrochen wird.
Ich bleibe stehen, lausche beklommen diesem unerfindlichen dunklen Tönen und versuche dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Plötzlich peitscht ein lauter Schuss auf, doch nicht aus einem Gewehrlauf, sondern vom Eise her, wo sich ein klaffender, langer Riss auftut. Die riesige Eisfläche ist es, die vibriert, wie eine ungeheurliche, riesige, kristallene Membran: der See und seine eisige Bespannung – sie singen und raunen, vom bewegten Wasser unter dem Eise unsichtbar in Schwingung versetzt.
Doch bald ist es wieder still. Mein Auge folgt einem eilig dahinfliegenden, laut zeternden schwarzen Vogel, der sich auf der Spitze einer hohen Kiefer niederlässt, dem einzigen mir sichtbaren Lebewesen außer mir in dieser stillen Bucht, auch wenn ich weiß, dass hundert Augen mich längst gesehen haben, bevor ich auch nur ein fremdes Wesen erblicke.
Seine schwarze Silhouette wirkt auf mich vor dem hohen Himmel, der Weite des Sees und der schier endlos sich hinstreckenden waldgesäumten Uferanhöhen wie ein unübersehbares Ausrufungszeichen. Ist das wirklich eine Amsel?.
Aber alle Zweifel verfliegen, als der Vogel beginnt, seinen schmelzenden Hymnus anzustimmen – ein Lied, das an diesem Ort und dem Trauerschleier dieser grau -vorösterlichen Zeit wie eine weltverlorene süß – wehmütige Klage ertönt, wie ein bach’sches „Air“ in einer rätselhaften, uneindeutigen Tonalität, die zugleich Dur und Moll in sich trägt. Eine fremdartige, doch tiefes Vertrauen, Helle und Zufriedenheit einflößende Tonsprache, die, wie so häufig in der Musik des Barock, etwas Trauriges freudig und lichtvoll zu sagen versteht und, umgekehrt, oft das Freudige und Helle mit einem sehnsuchtsvoll- traurigen Unterton ausspricht, was der Musik Corellis, Händels, Bachs oder dem musikalischen Zwillingsbruder Bachs, Silvius Leopold Weiss, ihre unauslotbare Tiefe verleiht.
Die Amsel singt, erfindet und entwickelt, ja komponiert geradezu ihre variationsreichen Motive und Melodien, die sie periodisch durch Pausen unterbricht (siehe dazu z.B. das Buch von David Rothenberg: „Warum Vögel singen“ ), im Einklang mit dem Ort, der Landschaft, des Lebensraumes, die sie sich für ihr Sesshaftwerden, Lieben und Fortpflanzen gesucht hat. Sie ist kein ausgesprochener „Spezialist“ für Rhythmen und Percussion wie z.B. der Specht, der Storch oder der Ziegenmelker. Nur wenn Gefahr oder Konkurrenz droht, kann sie zu einem geradezu aggressiven und nervenden Rhythmiker werden, dessen metallische, hartnäckig wiederholten, eintönigen Warnsignale sogar eine Katze oder eine Eule in die Flucht schlagen können.
Aber – all dies, was wir als Gesang, als Musik deuten und benennen – was sind das für Lieder ohne Worte? Gesänge welchen Inhaltes? Empfindet die Amsel die Schönheit einer Morgen- oder Abendstimmung, einer Landschaft und ihres eigenen Tönens? Ist es nicht ein unzulässiger vermenschlichender Fokus, wenn man von „Musik der Vögel“ spricht, und damit eine Ästhetisierung vornimmt?
Wenn wir so fragen, berühren wir etwas, was über das biologisch-Funktionale (Balz, Revierabgrenzung usw.), hinausführt. Die Schriftstellerin Anne Duden hat ihre Beobachtungen über die Singvögel als „erdgebundene Engel“ einmal so ausgedrückt:
„ Es könnte doch sein, dass diese Geflügelten unter den Wirbeltieren, die weder zu kriechen noch auf allen Vieren zu gehen brauchen noch auch wie Menschen über Stock und Stein stets aufrecht daherkommen müssen, – dass diese erdgebundenen Engel unter anderem aus Gründen der Schönheit, ja zum Zweck ihrer Entfaltung – wenn diese, zugegebenermaßen beflügelte Hypothese hier einmal erlaubt sei – auf die Welt gekommen sind.“
Im mittelalterlichen „Roman de la rose“ wird dem Gesang der Vögel noch eine weitere, nämlich religiös-spirituelle Dimension zugeschrieben:
„Die seit langen Monaten verstummten Vögel sangen wieder voller Hingabe ihre Frühlingshymnen. … Nie zuvor hörte ich einen derartigen Vogelgesang, süß und liebessehnend, wie ein Konzert von hoch und tief gestimmten Instrumenten. Ich blieb stehen und lauschte: Nachtigallen, Häher, Schwärme von Staren, Zaunkönige, Turteltauben, Distelfinken, Schwalben, Lerchen und Meisen. Die Amseln und Drosseln aber schienen die anderen Vögel mit ihrem Gesang noch übertreffen zu wollen. Es war wie ein Gottesdienst, in dem die Vögel wie Gottes Engel ihre Lieder sangen …“.
Der Philosoph Kant vernahm im Gesang der Vögel etwas Ähnliches: In seiner Kritik der Urteilskraft fragt er, warum wir nie müde würden, den Melodien der Vögel zu lauschen, während wir bei einem Menschen, der zwei oder drei Töne immerfort wiederholt, bald müde würden und uns verschlössen. Vogelgesang, so Kant, sei nicht schön, sondern erhaben, er sei etwas, was für unser Verständnis wunderbar fremd sei. Anziehend, aber unerreichbar, erhaben über unsere physische Welt.
Und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz kam aufgrund strenger Beobachtungen und nicht aufgrund philosophischer Spekulationen zu folgenden berührenden Schlüssen:
„Wir wissen wohl, dass dem Vogelgesang eine arterhaltende Leistung bei der Revierabgrenzung, der Anlockung des Weibchens, der Einschüchterung von Nebenbuhlern zukommt. Wir wissen aber auch, dass das Vogellied seine höchste Vollendung, seine reichste Differenzierung dort erreicht, wo es diese Funktionen gerade nicht hat.
Ein Blaukehlchen, eine Schama, eine Amsel singen ihre kunstvollsten und für unsere Empfindungen schönsten, objektiv gesehen kompliziertesten gebauten Lieder dann, wenn sie in ganz mäßiger Erregung „dichtend“ vor sich hinsingen.
Wenn das Lied funktionell wird, wenn der Vogel einen Gegner ansingt oder vor dem Weibchen balzt, gehen alle höheren Feinheiten verloren; man hört nur eintönige Wiederholungen der lautesten Strophen, wobei bei den sonst spottenden Art wie dem Blaukehlchen die schönsten Nachahmungen völlig verschwinden und der kennzeichnende, aber unschön schnarrende angeborene Teil des Liedes stark vorherrscht. Es hat mich immer wieder geradezu erschüttert, dass der singende Vogel haargenau in derselben biologischen Situation und in eben d e r Stimmungslage seine künstlerische Höchstleistung erreicht wie der Mensch, dann nämlich, wenn er in einer gewissen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt, in rein spielerischer Weise produziert.“
Wenn in Grimms Märchen vom „Zaunkönig“ die Rede ist von den „alten Zeiten, in denen jeder Klang noch Sinn und Bedeutung hatte, auch die Vögel ihre eigene Sprache hatten, die jedermann verstand, und die heutzutage nur noch wie ein Zwitschern, Kreischen, Pfeifen und bei einigen Vögeln wie Musik ohne Worte“ klinge – vielleicht verbergen sich noch weitere, bislang nur zu ahnende Dimensionen im Gesang der Vögel und harren der (Wieder-)Entdeckung? Löste nicht erst der musische Blick auf die Bienen ihr Rätsel, indem er ihre Bewegungen als Tanz zu lesen vermochte?
Der Komponist und große Ornithologe Olivier Messiaen, der ca. 700 Vogelstimmen voneinander unterscheiden konnte und ihre komplexen Töne, Rhythmen, Klangfarben und Melodien präzise aufzuzeichnen in der Lage war (und sie in Musik transformierte), vernahm im Vogelgesang und in den Vögeln geradezu das Gegenteil der Zeit. „Sie verkörpern unsere Sehnsucht nach Licht, nach den Sternen, nach Regenbögen und jubilierendem Gesang.“
Vögel sind für ihn angeschlossen, verbunden mit etwas viel Größerem, als dem menschlichen Bewusstsein, das an die Sinne und den Verstand gebunden ist zugänglich ist.
„In meinen schwermütigen Stunden, in denen mir plötzlich meine eigene Geringfügigkeit bewusst wird, in denen mir jede musikalische Ausdrucksweise – klassisch, orientalisch, altertümlich modern oder ultramodern – nur noch als bewundernswert akribisches Experimentieren ohne endgültige Rechtfertigung erscheint, bleibt mir nichts anderes übrig, als das wahre, verloren gegangene Gesicht der Musik irgendwo draußen im Wald, auf den Feldern, in den Bergen oder an der Küste zu suchen – bei den Vögeln … .
Angesichts so vieler entgegengesetzter Schulen, überlebter Stile und sich widersprechender Schreibweisen gibt es keine humane Musik, die dem Verzweifelten Vertrauen einflößen könnte. Da greifen die Stimmen der unendlichen Natur ein.“
Provozieren, lehren die Vogelstimmen uns nicht das Hinhören, Aufhorchen, Lauschen?
Vielleicht lautet ja eine ihrer Botschaften: „Lausche, höre – so wird Deine Seele leben!“
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MUSIK DER VÖGEL – Vögel in der Musik Teil 1
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MUSIK DER VÖGEL und der Menschen Teil 2
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EWIGES WORT, EWIGER SANG – Betrachtungen über Musik und Dichtungen
- „Der Mond ist aufgegangen“ (Lesedauer 4′)
- Über einen musikalischen Grabstein (Tombeau) von Johann Sebastian Bach
1. Der Mond ist aufgegangen …
Geht der Mond heutzutage anders auf als vor der ersten menschlichen Mondlandung im Juni 1969 ? Sehen wir ihn mit anderen, ernüchterten Augen an? Wurde die Entzauberung unseres Planeten und der ihn umgebenden Himmelskörper durch des „Sehers Rohr“(Schiller) nicht längst schon vor Jahrhunderten in verketzterter Heimlichkeit von Einzelnen begonnen?
Von der titanenhaften, raketengestützten bemannten und mittlerweile auch beweibten Raumfahrt an einer vorläufigen Grenze vollendet, scheint jedoch die Entromantisierung und Entmythisierung der Welt an einem schlichten Lied wie „Der Mond ist aufgegangen“ sanft abzuprallen. Dem geheimen Zauber dieses seit Generationen besungenen Mondaufganges scheint die Entseelung der Welt durch die funktionalistisch- digitalisierte Weltsicht nichts anhaben zu können.
In den kleinen Tonschritten und mit ihrem gleichmäßig schreitenden Herzschlagmetrum der Vertonung des 1847 geborenen Schülers von Kirnberger (seinerseits Bach Schüler) Johann Abraham Peter Schulz („Ihr Kinderlein kommet“, „Wir pflügen und wir streuen“) – erschienen in der Sammlung „Lieder im Volkston, bey dem Claviere zu singen“ (1790) – scheint alle Zeit der Welt beschlossen und geschenkt zu sein. Ursprünglich hatte der Dichter Matthias Claudius seine Dichtung mit der wunderbaren Melodie des Paul -Gerhardt –Liedes „Nun ruhen alle Wälder“ unterlegt.
Wie urvertraulich tönt es aus diesen klangewordenen Worten und den wortgewordenen Klängen. Das unruhig-ängstliche Kleinkind ebenso wie der reife, auf andere Weise und von vielerlei anderen Mächten beunruhigte Mensch höheren Alters vermögen sich wiederzufinden in diesem schlichten Tongemälde.
Ein Wörtchen aber fehlt in den sechs Strophen gänzlich –das Wort Ich. Und doch ist ein „Ich“ hier präsent und dicht verkörpert. Es macht Dich und mich – Euch und uns – aufmerksam, hindeutend auf eine Welt im Außen und auf die eigene Welt im Innern – doch so sanft abgewogen, so gelassen ausbalanciert, dass das sprechende und tönende Ich des Dichters Matthias Claudius und das des Komponisten Johann Peter Abraham Schulz, gleich weit entfernt scheinen von einer luzid-übersteigerten Innerlichkeit der Seele einerseits und andererseits der blassen Nüchternheit einer veräußerlichten Naturbetrachtung, die mehr und mehr auf Schall und Rauch von bloßen informellen Benennungen und funktionalisierten Definitionen baut.
Wie heilsamer Balsam vermag das Lied in unsere singende und zugleich lauschende Seele einzuströmen. Es singen kann auch bedeuten: jemandem fühlbare Zeit schenken: dem Kinde beim Einschlafen, einem Chor, einer Gruppe von Menschen, sich selber. Gelassenheit, Geborgenheit werden fühlbar, ja, und auch Einsicht, die sich in die Seele einsenkt, wie ein Same ins Erdreich:
„Seht ihr den Mond dort stehen/ er ist nur halb zu sehen…“ . Da wird unser nächster Himmelskörper zum Gleichnis unserer oft so fatalen halben Wahrheiten, der gelebten wie der nicht gelebten Wahrheiten. Wie oft ertragen wir „stolzen Menschenkinder“ die sichtbaren oder unsichtbaren Hälften der Wahrheit, die ganzen Wahrheiten nicht, bestehen vielmehr darauf, dass unsere kleine, halbe Wahrheit die alleinige ganze und gültige sei …
Wie gut tut demgegenüber das „Verschlafen und Vergessen “, in dem viel eher ein „Dürfen“ denn ein „Sollen“ anklingt. Wir dürfen verschlafen und vergessen, was uns tagtäglich als fürchterliche halbe oder auch nur viertel Wahrheiten im Schein der Bilder als wahrscheinlich dargeboten wird … .
Aber was ist eigentlich das „richtige Wollen“, um zu „dem Ziel“ zu kommen, das der zehn Jahre vor Bachs Tod (1750) geborene Matthias Claudius, von Beruf Dichter und Jounalist, noch im Auge hatte? Hat uns nicht die Sicherheit verlassen, dass wir uns auf ein sinnerfülltes Ziel zuzubewegen vermögen, wenn wir nur wollten? Wo und wie könnte diese Sicherheit – wiederum – zu finden sein?
Unsere vielen Künste und Künstler, die großen, sternenhaften Namen – was verheißen, was wissen sie darüber? „Wir stolzen Menschenkinder …, und wissen gar nicht viel…“ .
Vielleicht wäre Claudius, dieser aufgeklärte Dichter und Journalist im Fahrwasser Lessings und Herders, wenn er noch einen Schritt weitergegangen wäre, beim „Faust“ und dessen ruhelos-kainitischer Grundhaltung des „Habe nun, ach…“ innerlich angekommen …
Singen jedenfalls, verehrter Matthias Claudius, kannst du nicht gemeint haben mit diesen „vielen Künsten“, Künstlichkeiten und Abstraktionen, die uns „weiter von dem Ziel“ abbringen. Denn Singen scheint selbst gleichermaßen Weg und Ziel für uns Menschen zu sein – ein Ziel, das im „Gehen“ des Weges allein schon seine heilsame Erfüllung findet.
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2. Zu einer Aria von Johann Sebastian Bach
I
Wege, Stufen ohne festes Ziel.
In einen Reigen steter Schritte –
ins Steigen, Sinken, Heben, Neigen –
war’n wir gerufen und gewollt.
Du wiesest nichts ab,
nahmst nicht zurück die Hand.
Ich folgte Blicken, die mich meinten;
geschlossen noch die Blüte deines Lächelns.
II
Schmerzliches Ach und Atemhauch …
wie eine Wehe, sanft und stark …
Was sollt’ aus ihr geboren werden?
Ach, mein Du … Sehnsucht nach der letzten Nähe!
Wortlos unser Lied,
wieder, wieder fragend,
nicht wissend, ob wir zugehörig …
ein süß verschwistert Weh und Wagen …
Dein Schweigen war am sichern Ort,
schmiegte sich an mich,
und ich war da, bei Dir,
mein Kopf in Deinem Schoß.
Wir ruhten aus in dem, was immer wieder
stieg, sich neigte und uns hielt.
Nicht, weil wir’s wollten oder sollten war’s:
Es gab sich uns.