Musik: „Sorglåt“ und „Rongome Jannes Polska“, Trad. von Gotland, arr. von J.M.,von der CD „Singende Steine – Musik und Dichtungen von der Insel Gotland)
2020
31. Dezember 2020
Jahresblick (PDF)
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25. Dezember 2020
Die neuen Propheten einer neuen Religion
Der Berliner Tagesspiegel titelt gestern unter dem Foto einer barock geschnitzen Weihnachtskrippe:
HOFFNUNG MACHT DEN MENSCHEN – Dieses Weihnachtsfest wird anders als alle anderen. Wir müssen auf Freunde und Verwandte verzichten und auf lieb gewordene Traditionen. Doch all das lässt sich ertragen: mit dem Glauben an die Erlösung vom Virus.
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6. Dezember 2020
Glück der Nacht (PDF)
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25. November 2020
Die vierte industrielle Revolution oder Die Katze aus dem Sack (PDF)
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17. November 2020
Die Augen oder: eine Lebensbegegnung
Eine Weile lang kam sie dann noch auf eigene Bücher und die anderer Autoren zu sprechen, dann erhob sie sich, um zu gehen. Da kam es dem originellen Fräulein Lagerlöf in den Sinn, ihren Schleier anzuheben, um zu sehen, wie sie aussah. Sophie Elkan versuchte, das abzuwehren, ach, sie sei doch durch Schlaflosigkeit hässlich und nichts zum Anschauen! Aber Selma sagte: „Sie sind sehr schön, und ich weiß, dass wir Freundinnen werden.“
Nach dieser ersten Begegnung schrieb Selma Lagerlöf: „Deine Augen haben mich ständig begleitet. Ich sehe sie wann ich will, und darüber freue ich mich. Aber mir ist nicht recht klar, ob Deine Augen Du selbst bist, oder ob Du so bist, wie Deine Augen. Zwischen Euch besteht ein Widerspruch, der mich reizt und amüsiert, und um diesen aufzulösen, will ich Dein ganzes Wesen erforschen.“
(Zitiert aus: „Selma Lagerlöf“ von Holger Wolandt, S. 99f. Stuttgart 2015.)
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31. Oktober 2020
Allerseelen
Ameisenhafte Betriebsamkeit, Laubgeraschel, das Kruscheln und Kratzen von Harken, über Grabstellen gebeugte Gestalten mit Pflanztöpfen, Gießkannen, Blumensträußen, Illuminationen, allein oder zu zweit. Eine ältere Dame stopft das zuvor zusammengekratzte Laub in mitgebrachte Papiertüten – eine Art Sisyphostätigkeit, da die umstehenden alten Linden noch längst nicht alles Laub abgeworfen haben. Ein Mann schrubbt mit einer Bürste einen Grabstein ab. Wenn das Bild nicht so schief wäre würde ich sagen: Gräber, wie frisch aus dem Ei gepellt …
Und unter den unübersehbar vielen Menschen, die dort hantierten, die kamen und gingen, prächtige Blumengebinde, Kränze und Lichter aufstellend, suchten meine Augen vergeblich Einen oder Eine in Gebetshaltung oder beim gedenkenden Innehalten. Martha und Maria – immer wieder der gleiche Konflikt, seit zwei Jahrtausenden.
Wo lernten, wo verlernten wir es, das Beten?
25. Oktober 2020
Nein, schlaft nicht (PDF)
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An den Küsten der Zeit (PDF)
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23. Oktober 2020
Der magische Berg – Magie eines Berges
(Über den Berg Kinnekulle im schwedischen Västgötaland, Teil 1, PDF)
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18. Oktober 2020
Selbsterkenntnis (PDF)
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7. Oktober 2020
Great Barrington Declaration (PDF) von
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3. Oktober 2020
Von Westen nach Osten (PDF)
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Fundstück aus den Tagebüchern Leonardo da Vincis
„In ihrem maßlosen Übermut werden sie sogar zum Himmel fahren wollen, aber die allzu große Schwere ihrer Glieder wird sie unten halten. Da wird auf der Erde, unter der Erde oder im Wasser nichts übrig bleiben, was sie nicht verfolgen oder aufstöbern oder vernichten werden und auch nichts, was sie nicht aus einem Land in das andere schleppen werden. Ihr Leib wird allen lebendigen Körpern, die sie getötet haben, als Grab und Durchgang dienen.“
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1. Oktober 2020
Mythologie und Alltag
Ein sprechender Drache, der einen Schatz bewacht, ein H a u s drache. Seine Worte lauten: Mein Schatz!
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28. September 2020
Ach ja, die Liebe (Teil 3)
(zum Lesen anklicken)
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20. September 2020
Aquarell im September (PDF)
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19. September 2020
Ich beobachte täglich eine Nebelkrähe mit einer hohen Dohlenstirn, die schon frühmorgens auf dem Giebel eines Nachbarhauses Garten und Haus beäugt. Ich sehe deutlich, wie sie auch das Innere des Hauses inspiziert. Sie weiß z.B. genau, wo der Napf mit dem Katzenfutter steht (nahe der Tür zum Garten). Vor Nikolaus, unserem stattlichen Hauskater, hat sie nicht die mindeste Furcht. In Momenten, wo sie sich vor mir sicher fühlt, spaziert sie mitunter durch die offene Tür ins Innere des Hauses, um dort das begehrte Katzenfutter zu fressen. Was sie nicht runterzuwürgen vermag, damit stopft sie sich ihren Schnabel voll. Einmal sah ich sie anfliegen und mit Käsestücken im Schnabel im Innern des Hauses verschwinden. Nach einer Weile hüpfte sie o h n e den Käse wieder heraus in den Garten. Als ich drinnen nachschaute, ob und wieviel sie übriggelassen, lagen die Käsestückchen unberührt neben dem leeren Fressnapf … .
Oft sitzt sie zwei Meter von mir entfernt auf dem Zaun, wartend, mich fixierend, doch sobald ich den Kopf hebe und sie meinerseits fixiere, wird sie unruhig: ein Augenspiel nach dem Motto: ich gucke, ob du guckst. Mein Menschenblick weckt bei ihr – wie beim kleinen Kind – noch Scheu, ja Angst, wenn auch stark abgeschwächt im Vergleich zum vergangenen Jahr. Augen, Blicke sind Energieträger und Wärmemespender – oder auch böse, kleine Schlitze, denen Gleichgültigkeit, Kälte, Tücke oder Hass entweicht.
Die Tiere wissen seit Äonen: der Tod ist ein Meister aus Menschenhand. Vielleicht sind wir Menschen für die Tiere so etwas wie Aliens?
Vielleicht sterben die akut bedrohten Tierarten oder die strandenden Wale einen Stellvertretertod für jene gequälten Tierarten, die aus der erbarmungslosen Maschinerie industrieller Fleischproduktion nicht entfliehen können. Denn sowohl ihr Tod, ihr organisiertes, profitorientiertes Hinmorden ebenso wie ihre Zeugung (oft genug künstlich und jedenfalls kalt funktionalisiert) geschieht mit unausweichbarer, maschinenhafter Kälte, mit Zwang und Brutalität. Dass Nutztiere einfach aussterben – das darf für die Profiteure nicht sein. Was aber nicht nutztbar ist, wird bei lebendigem Leibe zerschreddert. Wann wird wohl es einen Friedensnobelpreis für einen Tierschützer geben? (Manfred Kyber (1880 – 1833, einer der fast vergessenen Autoren, war schon vor hundert Jahren im Tierschutz engagiert – er würde ihn posthum verdienen.)
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16. September 2020
Pädagogik könnte auch eine Art der Verbindungsmagie sein, die das Staunen weckt. Das Staunen kommt aus unserem menschlichen Zentrum und führt – umgekehrt – auch direkt dorthin. Vielleicht sollte man das Staunen dem Denken, Fühlen und Wollen als viertes Element hinzugesellen. Staunen ist auch ein Augenspiel, selbst wenn wir lauschen und dabei die Augen schließen. Wir staunen hinein in die Waldestiefe, in die Wolken, in die Augen, in das Antlitz eines Menschen.
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(zum Lesen anklicken)
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Sommertag (PDF)
(zum Lesen anklicken)
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2. September 2020
Fundstück
„Die Losung unserer neuen Spielzeit heißt „Back to the normal would be a crime“. Ich finde, ein Zurück zur Normalität wäre ein Verbrechen, weil man gesehen hat, wohin uns die Normalität bringt, was für Monster sie geschaffen hat. Diese Pandemie ist ja nur eine Nebenwirkung, die eigentliche Krankheit ist unser gesamtes System. Die große Erfahrung für mich aus Corona ist eigentlich eine metaphysische. …
Wir können nicht mehr damit umgehen, dass irgendjemand aus unserer Mitte stirbt, weil wir nicht nur denken, dass wir ihn verlieren, sondern weil wir denken, dass er verloren ist. Davon handelte auch mein Stück „Everywoman“ an den Salzburger Festspielen: Wir sind eine Gesellschaft ohne Transzendenz, ohne Boden. Das spüren im Endeffekt auch diese zornigen Spießer, die wir vor dem Reichstag gesehen haben. Sie wollen ins Innere der Institutionen vordringen, als gäbe es dort irgendeine Verschwörung in einem Hinterzimmer, einen Mechanismus, einen Weltgeist in Gestalt eines Schachspielers wie bei Walter Benjamin. Aber sie werden den Schachspieler nicht finden. Weil es ihn nicht gibt.“
(Der Schweizer Regisseur Milo Rau in einem Interview vom 2.9.2020)
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30. August 2020
Reigen seliger Geister (PDF)
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24. August 2020
Vor 11 Jahren auf ARTE zu sehen gewesen …
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6. August 2020
Das Leuchten (PDF)
(Zum Lesen anklicken)
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3. August 2020
Thesenpapier zu Corona (PDF)
Inhalt:
– Datenbasis verbessern
– Prävention gezielt weiterentwickeln
– Bürgerrechte wahren
von
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit
Hedwig François-Kettner
Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis
Patientensicherheit, Berlin
Dr. med. Matthias Gruhl
Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen
Hamburg/Bremen
Franz Knieps
Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin
Prof. Dr. phil. Holger Pfaff
Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des
Expertenbeirats des Innovationsfonds
Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske
Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat
Gesundheit
29.Juli 2020
Der Baggerführer
Der Schaufelbagger hatte auf dem morastigen Waldgrund, in dem tiefe Pfützen wie kleine Seen standen, schwer zu tun. Schon waren seine dicken Räder eingesunken und wühlten sich tiefer und tiefer ins schwarze Erdreich ein. Der Baggerführer bemerkte mich, den Wanderer, jedoch nicht. Hochkonzentriert bediente er das schwere Gerät, das sich nahezu geräuschlos vor und zurückbewegte, die Schaufel wie ein Geweih immer wieder senkend und hebend, um seine schlammige Last an einer benachbarter Stelle aufzuhäufen. Das Gehäuse der Maschine war mit Dreck bespritzt, ebenso wie die Montur des Maschinisten. Der Regen hatte nachgelassen, jedoch nieselten noch dicke Tropfen von den Bäumen herab. Nässe und Dreck aber störte den kleinen Mann nicht im mindesten, ebensowenig wie seine Eltern, die gut geschützt vor Feuchte und Schlamm bei einer Tasse Kaffee in ruhigem Gespräch in ihrem Wohnmobil saßen und ab und zu durch die geöffnete Tür einen Blick auf ihren Baggerführer warfen, der da zu ihren Füßen im Morast hockte, völlig versunken in seine Welt und vertieft in sein Spiel – ein Bild selbstvergessener Hingabe an sein Tun und den Augenblick … .
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28. Juli 2020
Fuck you, Västtrafik!
Ein altes Bahnhofsgebäude im Jugendstil aus Backsteinen erbaut. Ein Blickfang! Ich ahne schon, was mich im Innern der Wartehalle erwartet, als ich sie durch eine aufwendig gestaltete Eingangspforte betrete. Ist die äußere Erscheinung derartiger Gebäude vielfach noch „Hui“ und bietet ein anziehendes Bild, so schlägt dies beim Betreten des Inneren sofort um und zeigt ein Bild der Verlassenheit, Verwaisung und Verwahrlosung. Das Bahnhofsrestaurant verschlossen, ebenso wie der Fahrkartenschalter und die Gepäckausgabe. Tote, besprühte Türen mit gesprungener Verglasung; wegamputierte Klinken, dahinter ein gähnendes Nichts. Welch lebendiges Kommen und Gehen, Fragen und Antworten, neugierige Blicke, freudige Gesprächsfetzen von Wartenden, Erwarteten und Ankommenden und welche Durchsagen menschlicher Stimmen einst durch diese Räume schwirrten und hallten …
Jetzt möchte man sich kaum auf den schmuddeligen Bänken niederlassen, die die Rationalisierer dem Wartenden noch übriggelassen haben. Von der Toilette – der einzige noch zugängliche Raum – wehen süßlich-urinale Ausdünstungen in die Halle. Auch das Innere des WC besticht durch Unsauberkeit, Verwahrlosung und Spuren von Vandalismus. Irgendein einsamer Spinner hat die Stelle, wo über dem Waschbecken einst der Spiegel befestigt war, mit seiner Botschaft oder Konfession bekritzelt. „Hej, jag heter Jonas och jag will fuck …Ring mej!“ Charles Bukowski hätte ja wohl ein ästhetisches Wohlbehagen bei so etwas empfunden. Müsste man solche Leute nicht zu drei Wochen Grundreinigung derartiger Örtlichkeiten verurteilen? Ob jemals irgendjemand diesem Jonas antwortet und sein unzweideutiges Angebot anzunehmen gedenkt? Ich nehme mir vor, eine Sammlung derartiger Sprüche anzulegen, Dokumente des Zeitstils, bei dem der äußeren Verwahrlosung die Innere entspricht. Als ich mir die Hände gewaschen habe, entsteht nicht das Gefühl, sie wären nun sauberer – im Gegenteil. Und was alles muss ich wiederum berühren, um diesem Raum zu entkommen!
Ich verlasse den alten Bahnhof, der einst die An- und Abreisenden stolz empfing und verabschiedete. Auf dem Bahnsteig das gleiche Bild: tote, von Natternkopf, Waldweidenröschen und Gras überwucherte Gleise, ein Stück weggeworfener Landschaft. Der eigentliche Bahnsteig ist versetzt. Ein tiefblauer Himmel darüber, mit bedrohlich stummen, wie aufgemalten Wolkengebirgen, Windstille, eine lastende, mittägliche leblose Ruhe über dem verödeten Gelände.
Die Durchsage einer wahrhaftig echten weiblichen Stimme verkündet jetzt eine 20-minütige Verspätung der Regionalbahn, die mich von Mariestad nach Lidköping bringen soll. (Die Strecke am Fuße des sagenumwobenen Berges Kinnekulle wird als eine der landschaftlich schönsten Bahnstrecken Schwedens beworben). Nach zwanzig Minuten gelassenen Wartens mit einigen anderen Reisenden – so etwas kann ja selbst bei einem Regionalzug schon mal vorkommen – lässt die Stimme vernehmen, dass der Zug gänzlich entfällt und verweist auf die Busverbindungen. Ratlose Blicke. Von Bussen jedoch ist auf dem benachbarten Busbahnhof nicht die geringste Spur zu entdecken. Vorhin standen doch noch mehrere da – wohl eine Verschwörung der Busfahrer, die sich schnell und unbemerkt „rechtzeitig“ aus dem Staube gemacht haben. Eine ratlos dreinblickende ältere Dame mit großem Reisegepäck murmelt mir zu, den Tränen nahe, wie sie denn jetzt zum 200 km entfernten Flughafen von Göteborg kommen soll … .
Wir stehen gemeinsam vor der blauen, digitalen Anzeigetafel von „Västtrafik“ – so nennt sich das Unternehmen, das mit seinem Kulturerbe und Fahrgästen derartig zuvorkommend umgeht. Doch so sehr wir auch daraufstarren – eine neue, bessere Information will sich nicht einstellen. Unsichtbare, stumme und kalte Mächte haben das Ruder übernommen und lassen tote Hüllen und Kulissen einstigen Lebens zurück wie die ausgesaugten Opfer einer Spinne, ganz im Stil der neuen Zeit …
Ich beschließe, jetzt gleich wahrzumachen, was ich mir schon so oft bei anderen Anlässen vornahm. Ich werde mir einen dicken schwarzen Edding besorgen und gut lesbar und ganz analog, inspiriert durch diesen Jonas, auf das Glas der Anzeigetafel schreiben: „FUCK YOU, VÄSTTRAFIK!“
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24. Juli 2020
Suntak/ Väst-Götaland/ Schweden
… In diesem Raum zu singen, zu musizieren, zu beten – das müsste sein, wie auf einer Stradivari-Geige zu spielen … Doch die Kirche war verschlossen.
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23. Juli 2020
Wechselnde Pfade – das Labyrinth von Södra Hällarna und das Labyrinth von Chartres (PDF)
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22. Juli 2020
Palmströmiade
Ich betrete aus dem gleißend hellen Licht des späten Nachmittages einen stillen, kühlen, Kirchenraum, dessen gotischer Gestus der Aufrichtung und Weitung unmittelbar zur Wirkung kommt. Gothem – eine der annähernd einhundert Kirchen Gotlands mit einer erhalten gebliebenen Ausmalung der Wände und Gewölbe aus dem 13. Jahrhundert.
Ein Mann mittleren Alters, der auf jemanden oder auf etwas zu warten scheint, grüßt mich mit einem freundlichen Kopfnicken; möglich, dass er dort Aufsicht führt, was allerdings in den Landkirchen der Insel äußerst ungewöhnlich wäre. Nach einer Weile bewegt er sich auf einen Notenständer zu, der in der Nähe der Orgel im Turmgewölbe aufgestellt ist.
Aha, jetzt wird er wohl etwas singen, mutmaße ich gespannt, vielleicht probt er für ein Solo anlässlich eines Konzertes? Die Akustik dieses großen, hochgewölbten Raumes wie auch vieler anderer gotländischer Kirchen dürfte ziemlich einzigartig sein, es singt und spielt sich quasi wie von selbst.
Er schraubt das Notenpult höher, blickt konzentriert und hochaufgerichtet darauf. Was mag da wohl für ein Notenblatt vor ihm liegen? Jetzt wird er gleich singen … doch stattdessen ergreift er, einem unsichtbaren, jedoch ganz klaren Einsatz folgend, ein aus dem Gewölbe herabhängendes dickes Seil, das vor ihm auf den Steinfliesen in einer schönen Spirale aufgerollt ruht wie eine Schlange, und nach wenigen gekonnten Zügen und einem nicht minder beherrschten federnden Zurückgleitenlassen des Seils erfüllt feierlicher Glockenklang die Kirche …
Welch ein Bild: ein Glöckner, der vorm Notenpult stehend die älteste Glocke der Insel von 1374 mit ihren rhythmischen Hin und Wider ihres einen und einzigartig schönen Tones zum Klingen bringt, in abgemessener Zeitspanne. Als hätte Christian Morgenstern persönlich diese Palmströmiade arrangiert …
(Gothem Kyrka, Photographie von Wolfgang Sauber, 2007)
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26. Juni 2020
Das schlimmste Schimpfwort, das Schweine untereinander gebrauchen: „Du Mensch!“
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25. Juni 2020
Glaube, Hoffnung und Liebe: Du glaubst ans Schicksal, und hoffst, es ändern zu können, wenn Du um die Zukunft wüsstest. Besser ist, Du liebst Dein Schicksal.
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24. Juni 2020
Corona und dessen Folgen: wie der ungeheure Rücksog und Rückzug der Wassermassen vor der Riesenwelle eines Tsunami …
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21. Juni 2020
Ironie der Technik (zum lesen anklicken)
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13. Juni 2020
„Die klare Sonne bringt es an den Tag“ (Chamisso): so macht „Corona“ seinem Namen und Bedeutung alle Ehre. Ironie der Geschichte angesichts der gehäuften Corona-Infektionen in den westfälischen Fleischfabriken: Corona wurde im Mittelalter u.a. verehrt als die Schutzheilige der Fleischer.
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Ein Dirigent, der für seine ehrgeizigen musikalischen Ansprüche „über Leichen“ geht. Bemerkenswert dabei, wie er es macht, dass ihm seine „Untergebenen“ gefallen wollen. Damit sind sie in seinem Bann, damit vermag er Macht auszuspielen. Doch seine Macht würde in sich zusammenfallen, wenn sie aufhören, ihm gefallen zu wollen. Hier kommt jedoch das Spiel mit der Angst, ja Todesangst ins Spiel.
Einwand: Aber er ist doch so ein genialer Musiker. So gut haben wir noch nie geklungen! Antwort: Ein Chor, ein Orchester besteht nicht aus Orgelpfeifen, sondern aus Menschen.
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6. Juni 2020
Beinahe die heile Welt …(Lesezeit 7′- zum Lesen anklicken)
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5. Juni 2020
Stefan Zweig über den geheimnisvollen Geist (PDF – zum Lesen anklicken)
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1. Juni 2020
Corona:
Zweifelos gefährlich; beklagenswert jedes verlorene Menschenleben. Mittlerweile eine Mutation zur Suchterkrankung einer medienabhängigen Gesellschaft.
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Im Einklang mit dem fernen Traum
„Während meines langen Lebens schuf ich im Einklang mit meinem fernen Traum diese Bilder, wann immer ich bei Kräften war, und obwohl ich manchmal den Eindruck hatte, ich wäre jemand ganz anderes, sozusagen zwischen Himmel und Erde geboren, und die Erde sei für mich eine große Wüste, in der meine Seele irre wie eine Fackel, ein Fanal. …
Jedes Leben geht unausweichlich seinem Ende entgegen. Wir sollten unser Leben mit unseren Farben der Liebe und der Hoffnung färben. In dieser Liebe liegt die soziale Logik des Lebens und das Wesentliche jeder Religion verborgen. Für mich entspringt die Perfektion in der Kunst und im Leben dieser biblischen Quelle. Ohne diesen Geist tragen weder Kunst noch das Leben Früchte. … In der Kunst wie im Leben ist alles möglich, wenn die Liebe die Basis ist.“
(Marc Chagall (1887 – 1985) in einer Rede anlässlich seines 90. Geburtstages im Jahre 1977 im Pariser Louvre)
Begegnungen – Chagall, Picasso und Jünger (PDF)
(Zum Lesen anklicken)
30. Mai 2020
Vom Anleger unterhalb des Petzower Schlosses aus verlor sich mein Blick im Blau des Sees und des Himmels, schweifte hinüber zu den bewaldeten Hügeln am gegenüberliegenden Ufersaum mit seinen bunt eingestreuten Bootstegen, Häusern, Gärten und stattliche Villen. Auf der hölzernen Brüstung des Schiffsanlegers bemerkte ich plötzlich eine einzelne Rauchschwalbe. Kaum zwei Meter von mir entfernt hatte sie sich niedergelassen und zu schwätzen begonnen, erst verhalten, dann immer lebhafter. Was hatte sie nicht alles zu erzählen – Freudiges, Schönes, Erstaunliches auch von ihrer großen Reise aus dem fernen Süden hierher in den Norden! Dann schwang sich das kleine Schwatzmäulchen unvermittelt auf ins Weite des blauenden Himmels und des Sees. Ich sah ihr nach, sah den Raubvogel, der plötzlich neben ihr aus dem Schilfgürtel aufstieg … . Dann verlor ich sie aus den Augen. Nach einem Weilchen aber landete sie wieder auf derselben Stelle der Brüstung und plapperte aufgeregt wie ein kleines Kind darauflos: von der gefährlichen, riesigen Rohrweihe, hundertmal so groß wie sie, die sie aber unerschrocken verfolgt und vertrieben hätte, David gegen Goliath. Ich verstand längst nicht alles von ihren munteren Erzählungen – aber ich verstand die Arglosigkeit, das tiefe Vertrauen ins gute Leben und das Gute des Lebens, das aus ihren Lauten klang.
Corona Teil III
Der Philosoph Markus Gabriel in der Neuen Züricher Zeitung
23. Mai 2020
Geschichtssinn – ein „Vexierbegriff“ mit zweifachem Bezug. Zum einen kann man ihn beziehen auf die Frage nach dem Sinn, die Zusammenhänge, die Folgerichtigkeit und die vielfältigen Bedeutungen von Ereignissen.
Zum andern: Bezug auf den S i n n für Geschichte – Sinn also verstanden als ein Sinn(es)organ höchster Relevanz, weil dieser Sinn für’s Individuum wurzelbildend, nährend und stärkend wirkt. Ein Selbstbewusstsein, dass aus dem wachsenden Bewusstsein erwächst, woher ich komme; aus dem, was mein Grundvertrauen, meinen Ursprung ausmacht.
Oder auch: Wurdest du „empfangen“ oder wurdest du „gemacht“? Schon bei diesen Einstellungen beginnen entscheidende und prägende Fragen. Ein Ursprung aus Liebe, oder ein Ursprung infolge eines pragmatischen, planmäßigen Aktes. Oder beides? Oder aus Versehen, ungewollt, oder gar infolge eines Gewaltaktes? Goethes „Urwort“: „So musst Du sein, du kannst dir nicht entfliehen.“
Genauso wahr aber ist: was Du selbst aus dem unausweichlich Geprägten machst.
Licht und Dunkel in der Geschichte
Beispiele von historischen (oder literarischen) Gestalten:
Im Herz der Finsternisse: Karl von Anjou, Philipp der IV., Tala und Enver Pascha, H. Kissinger …
Im Lichte: der Staufer Konradin, Caspar Hauser, Christian Morgenstern, Selma Lagerlöf …
In der Literatur: Hagen von Tronje, Sintram von Fors („Gösta Berling“) …
Solvej in Ibsens „Peer Gynt“, Andersens Gerda, das Mädchen Uggla in H. Laxness
„Atomstation“…
19. Mai 2020
Fundstücke
„Die Tyrannei eines Prinzen in einer Oligarchie ist nicht so gefährlich für das Allgemeingut, wie die Apathie der Bürger in einer Demokratie.“
Charles de Montesquieu
WELCHE REGIERUNG DIE BESTE SEI? DIEJENIGE, DIE UNS LEHRT, UNS SELBST ZU REGIEREN.“
J. W. von Goethe
Mittelpunkt und Kreis – Notizen zu Corona Teil II
Gut merken und in 3 Monaten wiederlesen(PDF)
17. Mai 2020
Aktion Kultur erhalten
https://www.kulturerhalten-aktion.de/index.html
8. Mai 2020
Eine der heutigen Demagogenfragen lautet nicht mehr: Wollt ihr den totalen Krieg? sondern: Wollt ihr die totale Digitalisierung?
Fürchterliche Vision: der Bildschirm des Computers als Glasscheibe einer Gefangenenzelle für lebenslänglich Verurteilte. Diese glauben, sie würden hinaus „in die Freiheit und die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten“ schauen. In Wahrheit schauen sie nur ihre eigene Wunsch-, Bedürfnis-, Begierden- und Wahnwelt, in die sie mehr oder weniger eingesponnen wie das Opfer einer Spinne im Netz hängen …
„Digitalisierung“, „Digitalpakt“ – die großen Schlagwörter, mit denen derzeit auf den Bildungsbegriff – sofern dieser überhaupt noch existiert – eingeschlagen wird: „Die Welt muss digitalisiert werden“ – wenn es nach dem Willen der Effizienzialisten und Funktionalisten ginge, die diesen „Digitalpakt“ ge- und beschlossen haben.
Dagegen Novalis: „Die Welt muss romantisiert werden.“ Oder sein: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren…“ .
Ich sehe darüber Mephisto – seiner Sache sehr sicher – nur müde lächeln oder spöttisch grinsen. Durch seine Adern fließt anstelle von Blut elektrischer Strom. Und: er ist vollkommen unfähig zu singen, und, wer oder was von ihm geküsst wird, erstarrt zu etwas Gläsernem …
4. Mai 2020
Wenn sie den Raum betrat und anfing zu reden, blieben alle Uhren stehen.
2. Mai 2020
Vögel sind keine Autisten
Ein Waldgang, gleichsam mit Komponisten- und Dirigentenohren. Der alte, lichte Mischwald ist in seinem frischen, lichtdurchfluteten Grün nie schöner als zu dieser Jahreszeit. Die Buchen-, Eichen-, Birken-, Ulmen-, Akazien- , Robinien- und Kiefernbestände oberhalb des Sees, die das hohe Steilufer des ehemaligen Urstromtals der Havel bedecken, sind erfüllt von vielfältigen, lebhaften Vogelstimmen. Stoßseufzer: „Olivier Messiaen wusste an die achthundert Vogelstimmen zu unterscheiden …“
Aber gerade dieses Nichtwissen bewirkt wahrscheinlich eine größere Offenheit für die Bezüge, die Verbindungen der Vogelstimmen untereinander. Da sind zwei Solisten – geniale oder virtuose Melodiker (Schwarzdrossel, Rotkehlchen), die durch ihre jeweilig unnachahmlichen Erfindungen über die anderen Stimmen herausragen. „Die beiden geben den Ton an – wie virtuose Oberstimmen in einem barocken Konzert. Die anderen kommentieren, nehmen einzelne Motive auf, oder stimmen auf ihre ganz eigene Weise zu. Aber alles scheint sich um diese beiden zu drehen. Das sind die Hauptstimmen, die Themen … Der da zum Beispiel (Zilp Zalp) ist ein Rhythmiker, der spielt ein ostinates Motiv, eine Zustimmung.“
Schlagartig aber ist in einem Abschnitt reinen Kiefernwaldes die polyphone Komposition verstummt. Nur von weit draußen überm See ist der heisere Schrei des Reihers zu hören, ein unmusikalischer Eigenbrötler …
1. Mai 2020
Mittelpunkt und Kreis – Notizen zu Corona(PDF)
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30. April 2020
Was Du sein wirst, drüben, am anderen Ufer …
Drüben, angelangt am anderen Ufer, brauchst Du nicht mehr üben, Dich mit Fingersätzen und Bewegungsabläufen abzumühen. Dort b i s t Du. Du b i s t die Schönheit eines Präludiums und einer Fuge, eines Klanges, eines Themas. Deine Seele wird leben, verkörpert in den Farben der Klänge, in Tongestalten, Schwingungsmustern und im Atemstrom der Flöte und der Orgelpfeifen …
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28. April 2020
Ein Obdachloser sitzt auf einer Parkbank, in einer Hand hält er eine Mundharmonika, vor ihm liegend seine Kappe mit ein paar Cent drin, und daneben aufgestellt hat er ein handgemaltes Schild, auf dem zu lesen ist:
Ich bin obdachlos, allein und habe Hunger.
Gerade eben hatte er noch gespielt, jetzt ist er müde, oder er hat aufgegeben. Kaum einer der vielen Passanten hat etwas in seine Mütze geworfen. Viele der Vorübergehenden werfen einen flüchtigen Blick auf den Mann, dem der Kopf auf die Brust gesunken ist – und gehen weiter. Endlich bleibt einer stehen, schaut den offenbar Eingeschlafenden neugierig an, dann beginnt er in seiner Jackentasche zu suchen. Er kramt einen Stift heraus, nimmt das Pappschild und klappt es um, schreibt nach kurzem Besinnen etwas darauf und stellt es dann wieder vorsichtig an seinen Platz. Der Mann auf der Bank – er ist noch gar nicht alt – hat davon nichts mitbekommen. Er blinzelt, aus seinem Dösen wieder erwacht, nimmt sein Instrument an die Lippen, die von Bartstoppeln umrahmt sind, und beginnt nach einer Melodie zu suchen. Bald bleibt eine ältere mit Einkaufstaschen beladene Frau stehen. Sie wirft einen Blick auf das Pappschild, dann stellt sie ihre Taschen ab und hört ihm ein Weilchen zu. Schließlich wirft sie ihm lächelnd eine Münze in die Kappe. Dann setzt sie ihren Weg fort. Und auch der Nächste der Vorübergehenden, nachdem er im Vorübereilen einen Blick auf den Mann mit dem Pappschild warf, besinnt sich, kehrt um, und gibt etwas von seinem Geld. Der Obdachlose nickt dankend; sein Spiel beginnt jetzt Fahrt aufzunehmen – die Gaben spornen ihn offenbar an. Und abermals bleibt jemand stehen – eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter an der Hand ist es, und nachdem die beiden ein Weilchen gelauscht haben, drückt die Mutter ihrer Kleinen ein 5o Centstück ins Händchen …
Der Mann beginnt nun doch langsam, sich zu verwundern – die ganze lange Zeit vorher passierte nichts, und nun bleiben auf einmal so viele stehen, werfen ihm Geld in die Kappe … . Was ist da los? Aber er kann sich’s nicht erklären, er spielt ja nicht besser oder schlechter als sonst auch. Als der Verwunderte schließlich aufsteht, seine Mütze aufnimmt, um sein Geld zu zählen, da fällt sein Blick auf das Schild, und er liest mit wohlmöglich noch größerer Verwunderung: Ich bin obdachlos und allein, und ich teile gerne meine Musik mit dir.
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15. April 2020
„Wir werden nach dieser Krise nicht zur Normalität zurückkehren, denn diese Normalität war das Problem.“ (C. J. Polychroniou, Ökonom u. Politkwissenschaftler)
In: Noam Chomsky über die Seuche des Neoliberalismus:
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Selbstbegegnungen
Mit sich selbst von Zeit zu Zeit unter vier Augen sprechen.
„Wenn man allein ist, geht man prüfend in sich,“ sprach Synnöve.
„Ja,“ erwiderte Thorbjörn,„ja, da zeigt sich’s am besten, wer die größere Macht über uns hat,“ und er schritt ernst neben ihr her.
(Aus: Björnsterne Björnsson, „Synnöve Solbakken“)
„Nichts ist dem Menschen unerträglicher, als in völliger Ruhe zu verharren, ohne Leidenschaften, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne Hingabe. Dann fühlt er sein Nichts, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Sofort steigt vom Grunde seiner Seele die Langeweile auf, die Niedergeschlagenheit, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung.“
(Blaise Pascal)
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20. März 2020
Geburtstagsständchen für J. S. Bach:
„McBach’s Frolics“
Antje Jansen – Fiddle und Jürgen Motog – Piano
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Zelter über J. S. Bach an Goethe am 9. Juni 1828
… „so bin ich oft geneigt, ihn gerade hier zu bewundern, mit welcher heiligen Unbefangenheit, ja mit apostolischer Ironie ein ganz Unerwartetes heraustritt, das keinen Zweifel gegen Sinn und Geschmack aufkommen lässt. Ein „passus et sepultus“ führt an die letzten Pulse der stillen Mächte; ein „resurrexit“ oder “in gloria die patris“ in die ewigen Regionen seligen Schmerzens gegen die Hohlheit des Erdentreibens. Dies Gefühl aber ist wie unzerreißbar, und es möchte schwer sein, eine Melodie oder sonst ein Materialbuches davon mit sich zu nehmen. Es erneut sich nur, ja es stärkt sich verstärkt sich bei Wiederholung des Ganzen immerfort.
Bei alldem ist er bis daher noch abhängig von irgendeiner Aufgabe. Man soll ihm auf der Orgel folgen. Diese ist seine eigentliche Seele, der er den lebendigen Hauch unmittelbar eingibt. Sein Thema ist die eben geborene Empfindung, welche wie der Funke aus dem Steine allenfalls aus dem ersten zufälligen Fußtritt aufs Pedal hervorspringt. So kommt er nach und nach hinein, bis er sich isoliert, einsam fühlt und dann ein unerschöpflicher Strom in den unendlichen Ozean übergeht.
So ungefähr hat sein ältester Sohn Friedemann, welcher hier gestorben ist, die Sache mit seinen Worten wiedergegeben. „Gegen diesen bleiben wir alle Kinder.“
Nicht wenige seiner größeren Orgelsachen hören endlich wohl auf, aber sie sind nicht aus: bei ihnen ist kein Ende.
So will ich denn auch hier aufhören, so viel noch zu sagen wäre. Alles erwogen, was gegen ihn zeugen könnte, ist dieser Leipziger Kantor eine Erscheinung Gottes: klar, doch unerklärbar.
Ich könnte ihm zurufen: „Du hast mir Arbeit gemacht
Ich habe dich wieder ans Licht gebracht.“
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Heimkehr
Am Horizont spannte sich der leuchtende Lichtbogen der Morgenröte, welcher den seit fernsten zeitlosen Zeiten aufrollenden Sonnenball immer aufs Neue ankündigt.
Stampfend, rollend, ratternd und zitternd am ganzen stählernen Leib wendete sich das Fährschiff mit seinem Bug dem Anleger zu, und als es sein Wendemanöver geendet hatte, nahm es Fahrt auf, vorbei an den schier endlosen zementierten zyklopischen Kaianlagen, vertäuten Frachtschiffen, Kränen und Türmen, den aufgestapelten Röhren und Rotoren künftiger Windräder, den Lagergebäuden und Schuppen, den Werfthallen und Asphaltstraßen, gesäumt von tausend künstlichen Sonnen, deren nüchterner Schein im zunehmenden Lichte des aufkommenden Tages allmählich verblasste.
In dem offenen Fensterausschnitt des Autodecks, einem Bilderrahmen gleich, erstaunte ich über ein Gemälde hoher Transparenz an räumlicher und zeitlicher Tiefe, einer Partitur gleich, lebendig und klingend: Polyphon und doch harmonisch, voneinander gesondert geführte zeit-räumlich verfließende Bewegungen, unterschiedlichen Stimmen und Klangfarben gleich; Sonnen- und Erdbewegung, ein dem Schiff Geleit gebender gaukelnder Zug von Vögeln: der stählerne Koloss, der scheinbar synchron zum Sonnenlauf an der steinernen Maschinenwelt vorüber auf den Anleger zuglitt, und ich selbst, ruhend inmitten dieser ungleichen Bewegungen und Lebensrhythmen, die doch alle einem Thema und einer Harmonie zu folgen schienen … einem tönend-bewegten Aquarell gleichend, in dem jedes und jeder miteinander verbunden waren: Naturelemente, Menschenwerk, der jakende Möwenschwarm, das wolkendurchleuchtende, raumschaffende Licht und mein kleiner Ichpunkt, ein jedes mit seiner Zeit : Glück der Zugehörigkeit zu einem Ganzen, im Morgenglanz des Hier und Jetzt.
Neben mir, wie aus dem Boden gewachsen, stand ein Vater mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm. Er sprach wenige Worte in einer mir fremden wohlklingenden Sprache zu seinem Jungen, und darin schwang unmissverständlich die Schönheit des Morgenglanzes mit.
Aus dem Lautsprecher aber erscholl jetzt blechern und kratzend die Aufforderung, sich in die Fahrzeuge zu begeben. Ich war wieder zurück …
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19. März 2020
Im Krisenmodus
Klima
Klimaaktivistin
Kleinklima
Klimahysterie
Klimastreik
Klimastreit
Klimawandel
Klimakurve
Klimasprung
Klimademo
Klimakrisensitzung
Klimaretter
Klimarettung
Klimagefahr
Klimaanlage
Klimakatastrophe
Klimawechsel
Klimafeinde
Klimakiller
Klimazerstörung
klimafreundlich
klimafeindlich
Klimaschutz
Klimaschützerin
Klimaschützer
Klimapolitik
Klimakonferenz
Klimakrise
Coronakrise
…
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Die Liebe der Erde
Wir suchen Seine Nähe nicht.
Wir suchten zu entfliehn,
Verbargen uns vor Ihm
in unseren Höhlen,
bedeckten uns mit Feigenblättern,
kletterten hoch
auf dichtbelaubte Bäume
oder kauerten
im Schatten ihrer Stämme,
unter Dächern und Decken;
machten Es unsichtbar mit Scheuklappen,
hielten unter Wasser den Atem an
fast zum Ersticken,
immer in der Hoffnung,
Es gehe vorüber,
ohne unserer gewahr zu werden.
Doch untrüglich und sicher
fand Es mich, dich
und jeden noch.
Komm, fass meine Hand,
ich geb Dir meine!
Und auch, wenn Du es lässt –
so oder so sind wir verbunden:
in Ihm, dem Leid,
dieser Liebe der Erde
zu uns flügellosen Engeln,
voller Sehnsucht
nach dem Himmel auf Erden.
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8. Februar 2020
Die Mühle von Blomsterhult PDF 2
(Lesezeit ca. 10 – 15′)
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3. Februar 2020
An den Wind
Brausest wieder übern See
wilde Gischt und Schaum.
Lösest endlich mir mein Weh
auf im weiten Raum.
Wenn an diesem Wintertage
Wolkengrau dich flieht,
singst du alle trübe Klage,
was mir schwere wiegt …
Alles Halbe, und was klein,
machst du ganz und gar,
und ich werde, so all-ein,
meiner selbst gewahr.
Alles Klagen, banges Fragen
wehst Du fort von mir.
Alles Lieben, alles Wagen
nehm ich an von Dir.
Steig ins Boot nun, setz die Segel,
gälte es mein Leben,
Ich verlasse sichre Regel,
Dir ganz hingegeben:
Dir, der Wellenberge baut!
Selig, sich hinaus zu wagen!
Selig, wer den Winden traut,
und den Wellen, die ihn tragen.
(Goethe lässt grüßen)
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26. Januar 2020
Winterfrühling
So hoch der Tag,
so überweltlich licht
der blaue Dom.
Reglos der Wald.
In kahlen Wipfeln
pocht ein Specht.
Spiegelklare schweigt der See,
der fernen Ufer dunkle Säumung
von dort, wo sich der Abend naht,
und vor mir Silberschilf, Geäst und Stämme,
die dann und wann vom Sturme fielen,
gleich Riesen, die nun stumm vergehen;
Reifend in solchem Glanz
zu Wandel und zu Neubeginn
fühl ich die Welt.
Sie lauscht, sie sehnt, sie leuchtet sich
dem Licht entgegen,
und meint auch mich.
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19. Januar 2020
Eine Begegnung mit Benno Pludra (1925 -2014)
(Lesezeit ca. 4′)
„Ja, geht klar, ich freue mich drauf!“ Benno Pludra, einer der meistgelesenen Kinder-und Jugendbuchautoren der damaligen DDR und späteren BRD, bekräftigte zum Abschied noch einmal unsere Verabredung für eine Lesung im HAUS DER KLÄNGE. Ich hatte ihn nach vorausgegangenen brieflichen und telefonischen Kontakten in seinem gemütlichen, erinnerungsträchtig eingerichteten Haus im Norden Potsdams aufgesucht, und mit ihm Einzelheiten zu seiner geplanten Lesung zu besprechen.
Er lebte dort allein, unterstützt von einem freundlichen Pfleger, der drei Mal am Tag aufkreuzte. Doch nicht ganz allein: schon während meiner kurzen Wartezeit an der Haustürklingel ließ sich sein Mitbewohner lautstark und lebhaft vernehmen. Als der betagte Hausherr mir dann die Tür öffnete, zog sich der bellende Leibwächter eiligst trippelnd ins Innere der Wohnung zurück. Im nächsten Augenblick jedoch tauchte seine Schnauze wieder hinterm Türrahmen auf. Aus dunklen Augen fixierte das Hündchen mich misstrauisch. Erneutes, lautstarkes Ankläffen, damit ja klar war, wer hier Herr im Hause ist. Pludra beruhigte seinen aufgeregten Beschützer, und dieser blieb nun im folgenden Verlauf des Gesprächs immer um uns – mal ruhig zu unseren Füßen ausgestreckt, dann wieder unvermittelt aufspringend, um mich ein ums andere Mal zu beschnüffeln.
Wir hatten im Wohnzimmer Platz genommen, wo mein Blick auf einen schmalen Bucheinband fiel: „Bootsmann auf der Scholle“. Es war eine verlagsfrische Neuausgabe dieses Kinderbuchklassikers, daneben lag der Verlagsprospekt des Middelhauve-Verlags, der Pludras Bücher nach der Wende neu aufgelegt hat.
Es war dasselbe Buch, das mir im Sommer auf Hiddensee im Schaufenster der Koralle-Buchhandlung aufgefallen war – Hiddensee, diese immer wieder inspirierende Insel, mit der der Schriftsteller tief verbunden gewesen war (er hatte in Vitte ein Sommerhaus), und deren Spuren und Atmosphäre in vielen seiner Bücher zu spüren ist. Ich erzählte ihm von meiner Erstbegegnung mit seinen Geschichten auf Hiddensee in der „Koralle“, wo auch die Erstausgaben seiner Bücher ausgestellt waren, und wie dort die Idee entstanden war, ihn zu einer Lesung einzuladen. Seine blauen Augen hinter der charakteristisch geformten Brille blitzten auf, als er den Namen „Caputh“ hörte. „Aah! Caputh – da ist es schön!“
Ich blickte mich um. Seine Liebe zum Meer zeigte sich in vielen Bildern, Stichen, maritimen Gegenständen und Schiffsmodellen in dem erinnerungsträchtigen Zimmer. Sein Arbeitszimmer jedoch war das nicht mehr. „Wenn nichts mehr in der Kiste ist, kann ooch nüscht mehr rauskommen,“ antwortete er lakonisch auf meine Frage, woran er gerade schreibe. Aber – lesen, ja, das könne er noch, wenn auch nicht mehr vor Schulklassen, das sei ihm zu anstrengend. Ich konnte ihn beruhigen. Zu seiner Lesung im HAUS DER KLÄNGE würden wohl sicherlich mehr Erwachsene als Kinder kommen – Erwachsene, die mit seinen in der einstigen DDR und auch nach der Wende weit verbreiteten Büchern und Verfilmungen besondere und schöne Erinnerungen verbänden und daher den zurückgezogen lebenden Autor gerne einmal persönlich erleben würden.
Nun kam der 85-Jährige ins Erzählen – von Hiddensee, seinem Besuch der Seemannsschule in Hamburg als Sechzehnjähriger, von seinem Wunsch, Kapitän zu werden und von den Fahrten auf einem Schiff der Handelsmarine. Auch Lehrer sei er für kurze Zeit gewesen, aber das sei nichts für ihn gewesen. Das Meer, die Küste und ihre Menschen, die Seefahrt, das Inselleben und der Fischfang ergaben die Motive und Gestalten in den Geschichten Pludras. Der ferne Horizont, die Weite und Freiheitsgefühl weckende Landschaft am Meer bildeten dabei einen bedeutsamen Horizont für die Phantasie des Schriftstellers, der im Alter jedoch in einem sehr klein gewordenen Lebenskreis beheimatet war. (Kurz nach meinem Besuch erlitt Benno Pludra einen Schlaganfall, der ihn in Folge zwang, sein Haus als Wohnort aufzugeben und in eine betreute Wohneinrichtung zu ziehen. Dort wohnte er Tür an Tür mit unserer Großmutter).
Die Gemälde mit maritimen Motiven mussten natürlich mit umziehen – sie atmeten noch die Weite, ebenso wie das Schiffsmodell des Viermasters „Padua“, auf dem er als knapp Zwanzigjähriger zur See gefahren war.
„Die Berge sind etwas Zerbröckelndes, Vergehendes,“ sagte er, „aber das Meer ist immer wieder neu. Das wäscht uns später vielleicht sowieso mal weg …“.
Beinahe hätte er genau dies als Neunzehnjähriger erlebt: einfach weggespült
zu werden, nachdem die Padua von einem Torpedo getroffen worden war. Pludra hatte das knapp überlebt, aber das fürchterliche Geschehnis hatte die Haare des jungen Mannes innerhalb kürzester Zeit weiß werden lassen … .
(Benno Pludra verstarb vier Jahre später, am 27. August 2014.)
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11. Januar 2020
Winterfrühling
Draußen herrschen bei Sonnenschein Temperaturen um 12 Grad. Helles, unbekümmertes Getriller und Schlagen der Meisen klingen in der Luft. Aus dem Geäst einer hohen Douglasie sind andere, nie gehörte und leisere Töne zu vernehmen. Sollten etwa Stare schon wieder da sein? Nach einiger Zeit entdecke ich den unbekannten Sänger – ein alter Bekannter ist es, der sich meist an goldenen Oktobertagen einfindet – ein Emigrant aus den Wäldern, der die Gärten mit ihren alten Walnussbäumen aufsucht und sich an den abgeworfenen Nüssen gütlich tut. Im Wald kennt man ihn als lautstarken Schreck und Schreihals, dessen scharfen Augen nichts verborgen bleibt. Jetzt aber dringen Laute aus seiner Kehle, die ich bei ihm kaum für möglich gehalten habe: zärtlich-kosend, melodisch-flötend, gurrend und lyrisch-parlierend… Wo verbirgt sich die Angebetete, der diese Poesie eines Winterfrühlingstages gilt?
Doch Irrtum – hier genügte sich der Eichelhäher selbst. Ein Gespräch, ein Gesang mit und für sich selbst, geboren aus dem Wohlbehagen unter einem blauen, klaren Himmel nach Tagen von nassem Grau in Grau … .
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6. Januar 2020
Was die Sonne singt
Was ist Wahrheit? Diese Frage, die nach den Sternen, ja dem ganzen Weltall ausgreift – sie beginnt schon im kleinsten Alltäglichen, oder auch im Innern der Zellen und Moleküle. Und in deiner, in meiner, in unser aller Einstellungen zueinander und gegeneinander beginnt sie gleichfalls, nimmt von dort ihren Ausgang, ihr Wachstum, ihre Fortpflanzung. Die Sonne singt dazu: Ich bin die Wahrheit und das Leben.
Ein Stein, vom Herzen fallend: ein kleines Ostern.
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5. Januar 2020
Das Geheimnis der „eigenen Bestimmung“ liegt in unseren Begegnungen, im Erlebnis vom Du und Ich (Die lettische Schriftstellerin Zenta Maurina). Jede Begegnung ist mehr oder weniger Spiegelung, Brechung der Urbegegnungen am Anfang jeder menschlichen Biographie.
Mutter und Vater als Themen einer Doppelfuge, die ich dann durchs Leben hindurch entwickle und durchführe.
Der „stereoskopische Blick“ (Ernst Jünger)
Der Blick ins Räumliche der Zeit und ins Zeitliche des Raumes; das Farbliche des Klangs und der Klang der Farben; das Sehen des Gehörten und das Hören des Gesehenen, das Berührende der Töne und der Ton der Berührung; das Schmecken eines Erlebnisses und das Erlebnis eines Geschmacks … usw.
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4. Januar 2020
Geistige Kurzschlüsse
deutsch – national – rechts – rechtsradikal – nationalististisch – Nazi – …
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3. Januar 2020
Entleerung und Beliebigkeit
„Wir sind mitten in einer industriellen Revolution. Das ist aber nicht die erste, die wir hatten.“ … So der Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Sein Kollege, der Industriepräsident Dieter Kempf:“Die digitale Bildung in den Schulen muss vorangebracht werden. Es ist aus meiner Sicht völlig unzureichend, dass es heute keine ausreichende digitale Bildung in den Sekundarstufen gibt. Das heißt nicht, dass alle programmieren können. Aber wir müssen die jungen Menschen zur digitalen Souveränität erziehen.“
Gutes Beispiel für die Beliebigkeit der Benutzung und Kombination sinnentleerter Begriffe, mit den man suggestive Schlagwortwirkungen zu erzielen sucht. Erinnert an eine Phrasendreschmaschine.
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1. Januar 2020
Fundstück
Aus dem Nachlass des Grafen C. W.
Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem?
Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt –
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
(R. M. Rilke)
2019
Wintersonnenwende
Wir suchen Seine Nähe nicht.
Wir suchten zu entfliehn,
Verbargen uns vor Ihm
in unseren Höhlen,
bedeckten uns mit Feigenblättern,
kletterten hoch
auf dichtbelaubte Bäume
oder kauerten
im Schatten ihrer Stämme,
unter Dächern und Decken;
machten Es unsichtbar mit Scheuklappen,
hielten unter Wasser den Atem an
fast zum Ersticken,
immer in der Hoffnung,
Es gehe vorüber,
ohne unserer gewahr zu werden.
Doch untrüglich und sicher
fand Es mich, dich
und jeden noch.
Komm, fass meine Hand,
ich geb Dir meine!
Und auch, wenn Du es lässt –
so oder so sind wir verbunden:
in Ihm, dem Leid,
dieser Liebe der Erde
zu uns flügellosen Engeln,
voller Sehnsucht
nach dem Himmel auf Erden.
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3. Advent 2019
Zwei Fundstücke
„Das Wunder war nicht vor unserer Zeit, es ist zu allen Zeiten. Es ist kein außerordentlicher Zustand, es umgibt uns an allen Orten; es ist in uns, außer uns, unser ganzes Dasein ist ein Wunder. Aber der Mensch ist stumpf dagegen geworden. Das Schwere des Lebens ergibt sich daraus, dass tiefere Naturen das Wunder ahnen, aber nicht erklären können.“ (Ludwig Tieck, 1773 -1853, im Gespräch mit seinem Biographen Rudolf Köpcke).
Dagegen: „Der entzauberte Regenbogen“ von Richard Dawkins.
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2. Advent 2019
Musik zum 2. Advent
http://„Noel Nouvelet“ mit TREE (Antje Jansen – Violine, Catrina Steffen – Gesang, Percussion, Jürgen Motog – Hackbrett)
- Advent 2019
„Die Nacht ist vorgedrungen“ – Fantasie für 40-saitige finnische Konzertantele
http:// Die Nacht ist vorgedrungen
30. November 2019
Im steinernen Meer
Wir hielten inne vor einer abgesprengten blau-grauen Felsenwand und betrachteten die unzähligen weißlichen Einschlüsse und Abdrücke, auf die uns der Höhlenführer aufmerksam gemacht hatte. Deutlich hob sich die glatte Fläche von den umgebenden ockerfarbig versinternen, welligen oder kristallinisch glitzernden Formationen und Flächen ab – ein staunender Blick in eine ferne Galaxie der Zeit hier unten in der Tiefe der Tropfsteinhöhle: Kleine Kalkschwämme, Korallen, Armfüßler … wimmelndes, überfruchtbares, in Werden und Vergehen lustvoll treibendes, schwebendes, strudelndes Leben; Myriaden von Meerestieren, aus deren Organismen der Bilstein und der ganze Umkreis des „Warsteiner Sattels“ verdichtet ist – ein Kalkstein-Höhenzug, der im Devon vor 370 Millionen Jahren in einem flachen, tropischen Schelfmeer einst seinen Ursprung genommen hatte.
Weiter ging es durch teils enge Klüfte und Verwerfungen, durch Gänge und Hallen, einen Saal mit steinernen Orgelpfeifen und glitzernden Wandbehängen, vorbei an einer Burg mit Zinnen und Türmen, Elefanten, Wildschweinen, Dämonenfratzen …,hier eine Zwergenversammlung und dort die wissende Madonna mit den geheimnisvollen zwei Jesusknaben auf dem Arm … eine unfaßbar reich figurierte, liebliche, märchenhaft-mythische, erotisch-sexuelle, grausig-bedrohliche, immer aber geheimnisvolle steingewordene Welt auf dem Grunde eines einstigen Urmeeres …
All dies war s e l b s t einst wogendes, strömendes Meer gewesen, das durch unvorstellbare Zeiträume all das gebildet und verdichtet hat und immerfort noch weiter verdichtet, was wir hier sahen. Es war ein Blick in den Kosmos des Zeitlichen, ja, viel weiter noch zurück in jene Zone, wo das Messbare aufhört und ins Zeitlos-Mythische einfließt und alle Konturen und Referenzen von Maß und Zahl sich auflösen, allenfalls noch sehr fern erahnbar sind im Zyklischen und Rhythmischen der Jahrmillionen immerwährenden Lebens,-Sterbe- , Wiederbelebungs- und Neugeburtsprozesse.
Als unser Führer jetzt für eine Weile das künstliche Licht ausschaltete, umfasste uns augenblicklich schwärzeste, ewige Nacht – ein licht- und lautloser Uterus.
Ein Vordringen innerhalb von wenigen Minuten war es in eine schwindelnde Tiefe der Zeiten, in die Zeugen der Verwandlungen, der Erdrevolutionen, Neufigurationen und – wiederum – zerstörerischen Verwerfungen und Umwälzungen unseres Planeten mit seinen sich immer wieder verändernden Polen und Achsenstellungen, ein kosmisches Drehen und Wenden, gleich einem Durchkneten und Durchbacken des Erdklumpens aus allen Raumrichtungen, mit Klimadramen und Katastrophen, mit vulkanisch-eruptivem Wüten, gigantischen Flutungen und dem Umstülpen, dem Aufsteigen oder Versinken von Gebirgen und Kontinenten und dem ins Maßlose und Riesenhafte wachsenden Leben der Flora und Fauna, immer wieder verschlungen von neuen Ozeanen oder Weltbränden, oder erstarrend unter kilometerdicken Eispanzern …
In der totalen Dunkelheit war jetzt das feine Ticken der Wassertropfen zu vernehmen – der Klang einer ganz anderen Art von Zeitmessung innerhalb des planetarisch-kosmischen Stoffwechsels, dem wir Höhlenbesucher nicht nur als unbeteiligte Fremdlinge und Zuschauer gegenüberstanden, sondern mit jedem unserer Atemzüge, mit jeder streichelnden Berührung der runden Stalagmiten oder Stalaktiten, mit jedem Lichtstrahl der Lampen und Scheinwerfer, ja mit jedem verwunderten Blick hatten wir Teil, ja, waren selbst Teil dieser Prozesse – ein herausgeschnittenes winziges Momentum, heruntergebrochen auf den Stecknadelpunkt unserer Anwesenheit.
Und wenn es eine Musik gäbe in der Art von sinfonischen Variationen, beginnend mit dem Urklang oder Urknall, mit daraus sich entwickelnden Sätzen wie Silur, Kambrium, Devon, Tertiär, Pleistozän usw. ? Was wären ihre Themen? Wie würde sie klingen?
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22. November 2019
Eine Schulanfängerin:“ Ich lerne in Religion mit Gott zu sprechen. Aber im Unterricht haben wir noch nicht mit Gott gesprochen. Man muss nämlich erst seine Sprache lernen. In unserer Sprache kann man nicht mit Gott sprechen.“
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17. November 2019
Besuch bei einer alten Dame
Die Schriftstellerin Jutta Hecker in Weimar
(Lesezeit ca. 5′)
Vom Ilmpark her war ich den steilen Berg hinaufgestiefelt und stand nun herzklopfend vor meinem Ziel, der so geschichtsträchtigen Altenburg, gegenüber dem mächtigen Bau des Goethe-Schiller Archivs. Lizst hatte hier dreizehn Jahre seines Lebens verbracht, und viele Dichter, Musiker und Philosophen waren in dem dreistöckigen Gebäude ein- und ausgegangen – etwa Goethe, Bettina von Arnim, Richard Wagner, Hector Berlioz, Friedrich Hebbel, Hoffmann von Fallersleben, der Geiger Joseph Joachim, der Dirigent Hans von Bülow und nicht zuletzt Rudolf Steiner, dem die derzeitige Bewohnerin der Altenburg ihr neuestes Buch gewidmet hatte. In diesem Moment aber dachte ich an keinen dieser großen Namen, sonst hätte mein Herz wohlmöglich noch mehr geklopft, und ich hätte vielleicht nicht gewagt, noch dazu unangemeldet, in den Hausflur einzutreten und den Klingelknopf zu betätigen. Ich vernahm Schritte, und kurz darauf spähte jemand durch einen schmalen Spalt. War das die Dichterin, die ich besuchen wollte?
Ich entschuldigte meinen unangemeldeten Besuch und trug mein Anliegen vor, indem ich das besagte, von mir kurz zuvor erworbene Buch vorzeigte, das ich mir von ihr signieren lassen wollte – ein guter Vorwand und Anlass, diese Dichterin, die die Goethezeit und den Menschenkreis um Goethe so einzigartig lebendig schildern konnte, auch persönlich kennenzulernen.
„Kommen Sie bitte herein, ich sage meiner Schwester Bescheid.“ Der schmale Türspalt öffnete sich und eine zierliche alte Dame, die jetzt gänzlich sichtbar wurde, bat mich herein, führte mich in ein Wohn- oder Arbeitszimmer.
Vom brausenden Autolärm der vielbefahrenen Jenaer Straße, an der die Altenburg liegt, drang nichts herein, schien mit einem Schlage ausgelöscht. Ich schaute mich um: eine hohe Bücherwand, ein großer, dunkler Schreibtisch, darauf eine lebendige Unordnung von Papieren, Büchern, Gegenständen. Ich gewahrte das Ticken einer Wanduhr … Die Stille schien mit jeder Minute, die ich auf die Dichterin wartete, noch zu wachsen, ja, diese Stille wuchs sich in ein tiefes Schweigen aus, als mein Blick beim Umherschauen von einer Gipsmaske gebannt wurde.
Wer, was ist das ?… Eine Totenmaske? Jetzt erkenne ich’s: Goethes Antlitz, streng und verschlossen. Aber es ist nicht das Antlitz des verstorbenen Greises mit der erschreckend eingefallenen Mundpartie, das ich von einer Abbildung her kenne. Dies ist ein anderer Goethe, war ein nie zuvor Gesehener, in lebensgroßer Fülle, konzentriert, gespannt und mit geschlossenen Augen, wie versunken in eine Meditation.
“Ja, nicht wahr, diese Maske ist so ähnlich, dass sie schon fast wieder unähnlich scheint – das meinte jedenfalls Goethe selbst, als er sie gesehen hat. Der Bildhauer Weisser hat den Abguss gemacht, als Goethe sechzig Jahre alt war. Vielleicht kennen Sie meine Erzählung über deren Entstehung …“ .
Die alte Dame, die von mir unbemerkt ins Zimmer eingetreten war und mich ansprach, hatte ich vorhin schon gesehen, beim Aufstieg zur Altenburg im Garten, der vom Gehweg aus einsehbar ist. Tags zuvor hatte ich von einer Weimarer Freundin die Anschrift der Schriftstellerin erfahren, der ich nun die Hand reichte und mich ungebetenen Gast sehr freundlich aufnahm. Meine Freundin, die als Restauratorin an der Sanierung des Schillerhauses mitgewirkt hatte, hatte mich schon zuvor auf ihre Bücher aufmerksam gemacht und mir jüngst von diesem äußerlich so unscheinbaren Menschen erzählt. Sie hatte anlässlich der Wiedereröffnung des Schillerhauses eine beindruckende Rede gehalten. In ihren Romanen und Erzählungen, die die längst verstorbenen Gestalten etwa eines Goethe, Schiller, Eckermann oder einer Corona Schröter nicht nur höchst lebendig auferstehen ließen, hatte ich beim Lesen oft das manchmal beglückende, mitunter jedoch auch etwas unheimliche Gefühl, ich sei damals als schweigender Zeuge, als Diener oder Magd etwa, leibhaftig dabeigewesen.
Jutta Hecker war schon als kleines Mädchen mit Goethe sozusagen in direkte Berührung gekommen, nämlich auf dem Schoß ihres Vaters Max Heckers, dem einstigen langjährigen und hochverdienten Mitarbeiter des Goethe- Schiller Archivs, und als junge Frau hatte sie später einige Jahre selber im Archiv mitgewirkt, ganz nahe dran also an den Handschriften, Manuskripten, Briefen und anderen Erdenresten, die dort als kostbare Schätze gehütet werden.
„Dieses Antlitz begleitet mich eigentlich schon mein ganzes Leben, solange ich bewusst denken kann. In meiner Kindheit hing dieser Abguss im Arbeitszimmer meines Vaters.“
Sie machte mit der Hand eine leichte Bewegung zum Fenster hin, wo sich durch die Gardinenschleier die schemenhaften Umrisse des mächtigen Archivgebäudes abzeichneten.
„Und ich erinnere mich noch, als ich meinen Vater fragte, wer das sei, und wie er antwortete, das sei sein geheimer Rat. Das hat mich als Kind tief beeindruckt, und ich stellte mir vor, wie er mit seinem geheimen Ratgeber Geheimnisse besprach … .
Später, und auch heute noch, habe ich oft Zwiesprache mit diesem Antlitz gehalten. Ich fühlte immer: keiner versteht dich so wie dieser Goethe. Von niemandem sonst fühlte ich mich so tief verstanden …“.
Sie wendete das Gespräch auf meinen Beruf, fragte, erzählte von ihrem eigenen Werdegang. Unvermittelt fragte sie dann, indem sie auf mein Buchexemplar wies: „Kennen Sie das, was Rudolf Steiner über die Verbindung zwischen den sogenannten Toten und den Lebenden gesagt hat? Sehen Sie“, fuhr sie auf mein Nicken hin fort, „ohne die Verstorbenen und deren Inspirationen hätte ich über Goethe und all die anderen Menschen um ihn herum niemals so schreiben können. Vieles kam in Träumen zu mir, morgens, vor dem Aufwachen oder auch in Tagträumen. Und wenn man so wie ich von kleinauf mit persönlichen Dingen und Handschriften Goethes durch die Arbeiten am Nachlass in unmittelbaren Kontakt gekommen ist, dann können einem die Menschen von damals sehr lebendig werden. Ich gehöre einfach zu Goethe, zu seinen Zeitgenossen und zu dieser Stadt.
Wissen Sie, dass der junge Rudolf Steiner hier in diesen Räumen oft zu Gast war? Er hat hier zwar nicht gewohnt, aber als junger Mann und Mitherausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften war er oft zu Gast bei Bernhard Suphan, dem damaligen Direktor des Archivs, der hier mit seinen halbwüchsigen, sehr schwierigen Söhnen hier lebt. Um die Söhne hat Steiner sich viel gekümmert, fast gehörte er zeitweilig zur Familie.
Einer der Söhne hat mir als Achtzigjähriger noch ganz gerührt von einer unvergesslichen Kindheitsweihnacht mit Steiner erzählt. Der Umgang mit dem Vater aber sei schwierig gewesen. Suphan war anfangs von Steiner begeistert, aber als trockener Positivist in der Nachfolge Scherers konnte er sich in Steiners freiere Anschauungsart nicht hineinfinden. Sein Ende war übrigens furchtbar. Hier in diesem Zimmer hat er seine vielbändige Herderausgabe aufgetürmt, sich mit einer Schlinge um den Hals daraufgestellt und dann …“.
Eine Weile war nur das Ticken der Uhr zu hören, dann fuhr sie fort. „ In dieses Haus ist viel, viel Schicksal eingeschrieben. Die Altenburg scheint mir immer wieder wie ein Brennpunkt des geistigen Weimars. Wer ist hier nicht alles aus- und eingegangen, und wer und was kam hier nicht zusammen, welche geistigen und künstlerischen Richtungen und Bestrebungen flossen hier zusammen, verbanden sich miteinander, oder setzen sich voneinander ab … schöpferischer, zukunftsweisender Geist, stürmische, zersetzende Kritik, musealer Goethekult und hohl gewordene Aristokratie …“.
Sie begann ihren Füllfederhalter zu suchen. Rührend, wie auch ihre herbeigerufene Schwester umständlich mitsuchte, doch vergeblich. So musste für die Signierung ein gewöhnlicher Kugelschreiber herhalten. Unter einem Stapel von Büchern und Briefen kramte sie eine altertümliche, patinierte Schreibunterlage hervor, oben mit einer Metallklemme versehen. Und während sie in mein Exemplar von „Rudolf Steiner in Weimar“ hineinschrieb – sehr langsam, fast malend und kalligraphisch – hielt sie mit einem Male inne, strich sich über die Stirn und schaute suchend im Zimmer umher.
Dann fragte sie lächelnd:„ Welches Datum haben wir heute? Sie müssen entschuldigen, aber die Dinge, die zeitlich so naheliegend sind, entfallen mir am ehesten.“
Und ich las:
„Goethe ist scheinbar tot. Und wir Lebenden leben hoffentlich wirklich. Zur Erinnerung an Ihren Besuch in Weimar und in der Altenburg. Jutta Hecker, 21.5.1991“
Näheres über die Weimarer Schriftstellerin Jutta Hecker über folgenden link:
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9. November 2019
VOM WESTEN NACH OSTEN
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2. November 2019
Die Mühlsteine von Lugnås
(Lesezeit ca. 5′)
Ich durchstreifte die herbstlich leuchtenden Wälder um das Dorf Lugnås im schwedischen Westgötaland nahe dem Vänersee, auf einem kleinen Tafelberg zwischen seinen beiden Geschwisterbergen Kinnekulle und Billingen gelegen, und begegnete dabei den Spuren jener ungeschlachten Riesen, die hier einer ungeschriebenen Sage nach einst in dieser Gegend gehaust hatten. Das Riesenweib vom Billingen-Tafelberg hatte als Brautgeschenk ein steinernes Halsband von ihrem Liebsten bekommen, das ihr von ihrer eifersüchtigen Rivalin vom Kinnekulle entrissen worden war. Die Schnur des Halsbandes aber war auf deren Flucht zerrissen, als die Räuberin in vollem Lauf an einer hohen Tanne hängengeblieben war, und die kolossalen Steine waren polternd über dem Tafelberg von Lugnås herabgestürzt und krachend und splitternd durch den Wald gekollert, wo sie seither nun überall verstreut herumliegen …
Tiefes Schweigen herrscht in diesem Wald aus Ahorn, Birke, Esche, Ulme, Eiche, Fichte und Kiefer, in dem mein Weg mich an manchen Stellen an schwarz-unheimlichen kleinen Seen, Tümpeln oder Weihern vorbeiführt, die mich aus einer steil abfallenden Tiefe angähnen. Hier und da das Halbrund einer Steilkante, zu deren Füßen ganz oder auch nur halb aus dem Fels gebrochene Steine liegen – kreisrund und in der Mitte gelocht, viele von einem Eisenring umklammert … .
Mein Augen lernten schnell die bearbeiteten Steine von anderem losen Felsgestein zu unterscheiden, auch da, wo sie teils von Moos und Farn überwuchert, teils zerborsten, kaum noch zu erkennen sind, ja, manche Birke oder Fichte hat sich eine Bahn durch das Loch eines dieser kreisrunden Steine gesucht, ist immer breiter und stärker im Laufe vieler Jahre geworden, bis sie den sie einzwingenden steinernen Kreis zersprengte.
Die Zisterzienser, die sich auf der Insel Lurö im Vänersee Mitte des 12. Jahrhunderts niedergelassen hatten, um auf der Pilgerstation nach Nidaros ein Kloster zu errichten, hatten dieses weltabgelegene, schwierig zu besiedelnde und zu haltende Terrain jedoch bald wieder aufgegeben und sich zunächst auf dem Festland beim Dorf Lugnås im Westgötaland, ganz in der Nähe von Mariestad, niedergelassen. Die Klosterquelle markiert noch heute die Stelle, wo einst die hölzernen Gebäude der Mönche gestanden haben mögen, bevor sie wiederum wegzogen – diesmal, dank einer Donation der wohlhabenen Sigrid, nach Varnhem, eine halbe Tagesreise Fußmarsch entfernt in einem Tal am Fuße des Billingen zwischen Skara und Skövde gelegen, wo schon lange eine reiche Ansiedlung (christianisierter) Wikinger bestanden hatte.
Ich wanderte von der Quelle durch den von Haselbüschen und Eichen bewachsenen Äng weiter, und nach etwa hundert Meter öffnete sich mit einem Male eine große Lichtung, von mächtigen Eichen wie von den Säulen einer Hallenkirche umsäumt. Ein großes Kreuz am Ende des Kirchenschiffs markiert heutzutage die Vierung oder die Apsis. Meine Schritte wurden geradezu magnetisch in diese Richtung gezogen… . C.D. Friedrichs Mönche tauchten vor meinem inneren Auge auf, ja, in diesen aufgeladenen Augenblicken wandelte ich beinahe selbst wie ein Mönch umher, und die 900 Jahre, seit die Zisterzienser sich hier niederließen, verflossen ineinander in Erinnerung, Gegenwart und Ahnung… .
Ich setzte meinen Weg fort, einem markierten Pfad folgend. Die vielen herumliegenden mächtigen Mühlsteine … als sei plötzlich eine Katastrophe über die Arbeiter und die ganze Gegend hereingebrochen … . Alles schien stehen- und liegengelassen worden zu sein … .
„Silva war das älteste Gesicht der Natur, unermüdliche Gebärerin der Vermehrung, erster Entwurf der Formen, Materie der Köper und Grundlage der Substanz.“ (Bernhardus Silvestris (um 1100)
War es nicht immer das innerste Anliegen dieser Mönche gewesen, diese Wildnis zu bändigen, zu kultivieren, urbar und fruchtbar zu machen?
Die Zisterzienser und ihre Laienbrüder waren möglicherweise nicht die Ersten, die die Entdeckung gemacht hatten, dass der Erdgeist in seinem Geschichtsbuch hier um Lugnås eine ganz besondere Seite aufgeschlagen hat. Unter dem Kalkstein des Tafelberges nämlich tritt der feinkörnige Gneis zutage, aus dem die Mönche Mühlsteine allerbester feinkörniger Qualität heraushauten und sie dann unter kaum vorstellbaren Mühen ans Tageslicht beförderten – Mühlsteine für Handmühlen, für Wassermühlen, Windmühlen … – Mühlsteine, die für die Menschen wichtig und geradezu heilig waren, das „Unser täglich Brot gib uns heute“ erst ermöglichten. Wo an den begehrten Stein nicht oberirdisch heranzukommen war, wühlten sich die Mönche wie die Maulwürfe in den Berg hinein und durch ihn hindurch, unten an seiner Sohle, dort also, wo der leicht in Platten zu brechende Kalkstein auf dem Urberg aus Gneis lastet. Die fertigen Steine wurden auf ächzende Fuhrwerke verladen, für die zuvor befestigte Fahrwege gebaut werden mussten, um sie dann über den Vänern zu verschiffen – Richtung Norden und Richtung Westen und von dort weiter nach ganz Europa.
So wanderten die Steine der Klosterbrüder von Lugnås und Varnhems aus zu den Kornmühlen, in die Dörfer und Städte des Nordens und sogar bis weithin in die mittleren, östlichen und hinunter in die südlichen Teile Europas, und mit dem Herausbrechen und der Anfertigung der Mühlsteine durch die Mönche kam Leben, Ordnung, Struktur, Licht und göttliche Schönheit in den ungezähmten Urwald und die Bergwildnis dieser Gegend. Und nicht nur dies: die Zisterzienser – geistige, architektonische, (land-)wirtschaftliche und technische Elite der damaligen Zeit – brachten mit ihrem Wissen und ihren technischen Neuerungen allmählich auch Kultivierung und einen gewissen Wohlstand und waren zudem Heilkundige.
Steine für Brot. Die Mönche hatten es vor 800 Jahren in großem Stil angestoßen. Tagaus, tagein Rodungen, Axtschläge, dumpfes Aufschlagen fallender Bäume, das schwere Hämmern von Vorschlaghämmern und Spitzhacken, das Picken der Meißel, Spreng- und Zahneisen, die wimmelnden Arbeiter, frühmorgens um vier schon seufzende, verhärmte Frauen und greinende Kinder in den Steinbrüchen, um die Bergsole im Steinbruch vom Schutt freizuräumen, jeder und jede musste ran nach dem Willen der späteren Patrone, die an die Stelle der Mönche getreten waren; Pferdegewieher, antreibende Rufe, knarrende Fuhrwerke – all dies sollte in der heutzutage so tiefen, stillen, heilen Waldwildnis von Lugnås für die Dauer von rund 800 Jahre nicht verstummen.
Kaum ein Rauschen aus der großen Welt war in den Jahrhunderten einmal hierher vorgedrungen – nicht die Stürme der Reformation, die die Mönche vertrieben, nicht das Kriegsgeschrei des dreißigjährigen Krieges und der nordischen Kriege, nicht die mächtige, befehlende Stimme des großen Reichsfürsten Magnus de la Gardie, den in Varnhem prunkvoll bestatteten Berater der großen Königin Christina, nicht die Kunde vom Untergang der stolzen „Wasa“, ebensowenig wie der Kanonendonner und die heulenden Bomber des ersten Weltkrieges. All die Jahrhunderte schwärten über den Wäldern von Lugnås, des Billingen und des benachbarten Kinnekulle die ewigen Rauchschwaden und der Brandgeruch der Schmieden, der Kohlenmeiler, der Kalkbrennöfen, und trübten den klarblauen Himmel des Nordens … . Dann schnaufte die erste Dampflokomotive durch die Wälder, die Dampfschiffe stampften qualmend über den Väner- und Vetternsee – die Dampfkraft, mit Hilfe derer von nun an der mühsame Transport der Mühlsteine erleichtert wurde, schneller und billiger ging. Das Rad des industriellen Zeitalters, der Rationalisierung und des Profitmachens hatte andernorts lange schon begonnen, sich schneller und unerbittlicher zu drehen – nun war dies auch hier endlich angekommen.
Die Nachfrage nach den Steinen von Lugnås ging kurz nach Beginn des 1. Weltkrieges dramatisch zurück, es herrschte Ratlosigkeit auf den Herrenhöfen der Steinpatrone. Arbeiter und ihre Familien mussten entlassen werden, wurden brotlos. Viele wanderten in diesen Jahren nach Amerika aus – ausgerechnet dorthin, von wo aus die Katastrophe begonnen und der Todesstoß gegen die Mühlsteinindustrie von Lugnås erfolgt war. In Amerika hatte man damit begonnen, in großem Stil Mühlsteine zu gießen , konkurrenzlos billig, jeder schaute aufs Geld und Gewinn, und da war es denn bald aus mit der Tradition der vielgerühmten und jahrhundertelang gefragten Steine von Lugnås. Der endgültige Zusammenbruch kam 1919 so plötzlich, dass man alle begonnenen oder fertiggestellten Steine einfach stehen- und liegengelasssen hatte, wie bei einer Flucht …
All diese Begebenheiten von Menschen und Wäldern und von den Steinen erahnte ich im leise flüsternden Rauschen des Windes in den herbstlich gefärbten Baumkronen und einem einsetzenden rieselnden Regen, gleich einer fernen, schwermütigen Sage aus der Tiefe der Zeiten… .
Die große Mutter Natur aber und der Wald haben längst schon vor 100 Jahren damit begonnen, sich all unser unermüdliches, schwer abgerungenes Menschenwerk mit all seinen Geschichten und Schicksalen wieder einzuverleiben …
Auf dem Tafelberg Billingen /Västergötland/ Schweden
Die geologische Evolution der Erde gleicht einer Sanduhr: Wenn eine Zeit abgelaufen ist, wird die Uhr umgedreht, das Unterste zuoberst und das Oberste zuunterst gekehrt, damit neue Bewegung entstehe und weitere Entwicklung. „Wie vieles muss zugrunde gehen, damit ein Weniges gedeih‘.“ (Christian Morgenstern)
Die schwedischen Tafelberge Västergötlands oder das „Korallenriff Gotland“, die Insel Ösel auf der gegenüberliegenden estländischen Seite: ehemaliger Meeresgrund voller Organismen, versteinertes Leben, nun aus dem Meer herausgehobene Inseln.
Die Wüsten: sandiger ehemaliger Meeresgrund, ebenso wie die steinernen Meere der Kalkgebirge: versteinertes Leben, versteinerte einstige Fruchtbarkeit der vegetativen und animalischen Welt.
Auch unsere Zeit, wie schon frühere Kulturen, die unterm Wüstensand oder unter Vulkanasche begraben oder im Meer versunken liegen, wird dereinst zuunterst gekehrt , zerquetscht, zermahlt, zerschmolzen und umgeschmolzen werden. Welche Rolle haben wir Menschen dabei? Sind wir nur Parasiten, die diese Zerstörung- und Umwandlungsprozesse fördern und beschleunigen? Sind wir Bremser, Bewahrer, Retter? Oder Teil der evolutionären Prozesse, die auf Bewusstseinsebenen weitergehen?
Oder Wesen, die sich von diesen Prozessen abwenden?
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1.November 2019
Fundstück
„Der Weg der Gottlosen ist wie dunkle Nacht. Sie gewahren nicht, worüber sie straucheln.“ (Sprüche 4, 19)
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30. Oktober 2019
Fundstück
„Wenn „Google“ einen Meilenstein ausruft, sollte man nicht gleich mitjubeln, es aber auch nicht ignorieren. Im Fall des Quantencomputers lohnt ein genauerer Blick. Der Suchmaschinenkonzern bastelt seit 13 Jahren an der Technologie, die die Computerwelt revolutionieren soll. Und jetzt ist dem Unternehmen … ein Durchbruch gelungen. Man habe eine Maschine gebaut, die eine Testrechnung unglaublich schnell absolvierte. Sie schaffte in 200 Sekunden, wofür die schnellsten Supercomputer dieser Welt bisher 10 000 Jahre gebraucht hätten … .“ (Quelle:“FAZ Woche“ vom 25.10.2019)
Da es sich beim Erscheinungsdatum dieser Nachricht nicht um einen 1. April handelt, müssen „wir“ also bislang übersehen haben, dass es schon vor mindestens 10 000 Jahren Supercomputer gegeben haben muss, die für die Testrechnung von Google soviel Zeit benötigt haben. Sind wir so geschichtslos oder Google?
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22. Oktober 2019
Im schwedischen „Dollar Store“
“ Was niemand braucht/ was niemand spürt/ was ohne Sinn zum Kauf verführt/ hier wird es präsentiert …“.
Eine riesige Halle mit den Dimensionen einer Sportarena, darin ein Labyrinth von engen Regalgängen mit Stapeln von Textilien, Berge und Halden von quietschbunten Dingen, Putzmitteln, Fahrradbedarf, Besen und Bürsten, Waschlappen, Slips und BH’s, Schuhe, Hausschuhe, Kinderkleidung, Spielzeug, Haushaltswaren, Kosmetika, Werkzeug, Malerbedarf, Nahrungsmittel, Süßigkeiten, eine riesige Abteilung mit „weihnachtlichem Dekor, Lichterketten, hölzernen Nussknackern made in Hong Kong, Schreibwaren und Bürobedarf, goldener Dekor in Buddha- oder Tigerform, Einrichtungsgegenstände, Bilderrahmen, Regenschirme, Blumenvasen … massenhaft Nippes, Kitsch, Tand und Schund – Dinge, die mit ihren dürftig lackierten, imitierten Oberflächen oder billigem Plastik nicht mal mehr vorzugeben versuchen, schön zu sein – wenn überhaupt sind sie nur dekorativ und zugleich seelenlos: ausgeschieden, ausgedrückt aus dem After einer gigantischen anonymen Produktionsmaschinierie, die all die diese Dinge sinnlos überproduziert, ja, diese Überproduktion zum Prinzip macht, und die um den fundamentalen Abfallcharakter ihrer Produktion weiß und ihre Kurzlebigkeit schon einkalulkiert hat. Denn nur durch die Masse und ihre kurze Verfallszeit können die „Dauertiefstpreise“ garantiert werden. Das tausendfache von dem, was eigentlich gebraucht würde (wenn überhaupt) wird von anonymen Sklavenheeren und Maschinen „auf Halde“ produziert – eine fratzenhafte Masse von Dingen, erstickend und vergiftend in ihren Ausdünstungen, die auch dann immer noch Profit einbringen, auch wenn von tausend Gegenständen nur hundert sich verkaufen würden.
Besonders tragisch wirkt es in einer solchen hohlen und aushöhlenden Welt, Kinder zu beobachten, die sich dort einerseits starr auf ein Objekt der Begierde fixieren, dessen Besitz zur Existenzfrage wird, oder die andererseits an- und aufgesaugt werden von dieser Maßlosigkeit, wie sie „von Begierde zu Begierde taumeln“, unstillbar: kaum irgendwo wird die Infamität dieses Betruges am „Sein durch das Besitzen-müssen“ durch die Weckung sinnlos suchend herumirrender Augen, gierig tentakelnder Händchen und trotzig forderndem Geschrei deutlicher. Die Aberwitzigkeit und Scheinhaftigkeit dieser scheinbar beliebig angehäuften Dingwelt drängt brutal und ungehemmt in grellen Farben heran, um Kauflust und Kaufgier aufzureizen, anzustacheln, zu entfesseln: auch eine Erscheinungsform des Pornographischen.
Wehe mir, der ich mich nichtsahnend in diese neonbeleuchtete, kalt-labyrinthische Kaufhölle begab – auch ich fand hier Brauchbares zu „unschlagbar günstigen Preisen“. Ich hatte nur noch nicht gewusst oder nur vergessen, dass ich so etwas brauchte …Sollte ich mir nicht für das bevorstehende „Halloweenfest“ ( – jetzt wird es schon als „Fest“ ganz offiziell vom REWE- Supermarkt groß angekündigt für die Dorfbevölkerung -) jenen grinsenden Totenschädel samt Skelett kaufen und damit meine liebe Nachbarschaft ein wenig aufrütteln, ihnen mal damit den Spiegel vorhalten? Oder vielleicht doch eher das zähnebleckende, lebensgroße Skelett eines krummbeinigen Mopses auf Rädern(!) mit beleuchtbaren, bösgrünen Augen, um mit ihm „Gassi zu gehen“? …
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20. Oktober 2019
Eine der heutigen Demagogenfragen lautet nicht mehr: Wollt ihr den totalen Krieg? sondern: Wollt ihr die totale Digitalisierung?
Fürchterliche Vision: der Bildschirm des Computers als Glasscheibe einer Gefangenenzelle für lebenslänglich Verurteilte. Diese glauben, sie würden hinaus „in die Freiheit und die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten“ schauen. In Wahrheit schauen sie nur ihre eigene Wunsch-, Bedürfnis-, Begierden- und Wahnwelt, in die sie mehr oder weniger eingesponnen wie das Opfer einer Spinne im Netz hängen …
„Digitalisierung“, „Digitalpakt“ – die großen Schlagwörter, mit denen derzeit auf den Bildungsbegriff – sofern dieser überhaupt noch existiert – eingeschlagen wird: „Die Welt muss digitalisiert werden“ – wenn es nach dem Willen der Effizienzialisten und Funktionalisten ginge, die diesen „Digitalpakt“ ge- und beschlossen haben.
Dagegen Novalis: „Die Welt muss romantisiert werden.“ Oder sein: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren…“ .
Ich sehe darüber Mephisto – seiner Sache sehr sicher – nur müde lächeln oder spöttisch grinsen. Durch seine Adern fließt anstelle von Blut elektrischer Strom. Und: er ist vollkommen unfähig zu singen, und, wer oder was von ihm geküsst wird, erstarrt zu etwas Gläsernem …
(So geschah es, als Mephisto sich der Leier, der Harfe bemächtigte. Da er sie küsste, verwandelten sich diese Instrumente in das Klavier: Obertonarm und gläsern dessen Klang, aber – bis heute – unendlich faszinierend.)
Antisemitismus: leider auch eine Form der Verbundenheit der Völker.
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19. Oktober 2019
Die verkappten oder verhinderten Poeten, Forscher, Politiker, Musiker, Sänger, Künstler Historiker und die Militärs unter den Lehrern. Ist Pädagoge ein eigener Beruf, genauer: eine Berufung und Begabung, und zugleich auch lehr- und vermittelbar? Eine Haltung, gepaart mit Einfühlungsgabe und Wissen, welche sich verschiedenster Gebiete bedient, um diese Haltung auszuleben?
Der Dorfschullehrer und Schriftsteller Walter Kempowski („Echolot“) scherte in dieser Hinsicht völlig aus der Instrumentalisierung und Funktionalisierung der Schule aus. „Solche Lehrer braucht die Maschinerie nicht.“
Adalbert Stifter, Volksschullehrer, später Schulinspekteur in Oberösterreich, wo er unter anderem den jungen Volksschullehrer, noch völlig unbekannten Anton Bruckner visitierte: „Der wichtigste Mann im Staate ist der Dorfschulmeister“. Das von Stifter herausgegebene humanistische Lesebuch fiel der Zensur des metternich’schen Systems zum Opfer. Die schon gedruckte Ausgabe durfte nicht verkauft und benutzt werden.
Selma Lagerlöf, Lehrerin an einer Mädchenschule im südschwedischen Landskrona, beendete diese Tätigkeit nach einigen Jahren um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Von ihr stammt eins der berühmtesten Geographiebücher Schwedens, bis heute gelesen, und mehrfach verfilmt: „Nils Holgerssons wunderbare Reise …“.
Lehrer …
Siegfried Westenfelder: Er lehrte uns in der 6. Klasse die Bool’sche Algebra, leuchtenden Auges und mit „leuchtend“ klingender Stimme, ein mathematisch Erleuchteter und Erleuchtender, der Inbegriff ansteckender Begeisterungsfähigkeit.
Vertretungsunterricht bei dem Deutschlehrer H. Kuppert. Er blättert ein abgegriffenes Märchenbuch von Bechstein auf und liest uns – der „schlimmsten Klasse der ganzen Schule“ – ein Märchen (!) vor, uns dreißig Jungs, der verrufenen 5. Klasse des Lippstädter Ostendorf-Gymnasiums! Wir lauschten in zugespitzter und anhaltender Stille seinem lebendigen Vortrag. Unvergesslich: ein M e n s c h unter den vielen Gepanzerten seiner Kriegsgeneration und ein Apostel der Sprache der Grimms, Bechsteins, letztlich: Goethes.
Hellmut Pache: ein (vorgeblicher) Freund Herbert von Karajans, mit österreichischem Dialekt, verunglimpft durch Schmierereien auf den Schülerbänken: „Pache ist eine schwule Sau“ und ähnliche Unflätigkeiten. Damit musste der Beethoven-Karajan-Enthusiast und alleinstehende „Quereinsteiger“(wie man heutzutage sagt) märtyrerhaft leben und fertigwerden, er, der Enthusiast und Pianist, der kein ausgebildeter Musikpädagoge war. Ohnmächtige Wutanfälle, mitunter auch tätliche Übergriffe auf unverfrorene Störer und Zerstörer, blieben da nicht aus. Unter uns Schülern war er schon zu Lebzeiten eine Legende – eine Art „Don Quichotte der Musik“.
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20. Oktober 2019
Meine Augen: Wanderer auf dem schmalen Grat der Bücherberge. Wieviel Kilometer mögen sie auf ihrer Wanderung im Laufe eines Lebens wohl zurücklegen?
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12. Oktober 2019
Über das Lied „Der Mond ist aufgegangen …“
Geht der Mond heutzutage anders auf als vor der ersten menschlichen Mondlandung im Juni 1969 ? Sehen wir ihn mit anderen, ernüchterten Augen an? Wurde die Entzauberung unseres Planeten und der ihn umgebenden Himmelskörper durch des „Sehers Rohr“(Schiller) nicht längst schon vor Jahrhunderten in verketzterter Heimlichkeit von Einzelnen begonnen?
Von der titanenhaften, raketengestützten bemannten und mittlerweile auch beweibten Raumfahrt an einer vorläufigen Grenze vollendet, scheint jedoch die Entromantisierung und Entmythisierung der Welt an einem schlichten Lied wie „Der Mond ist aufgegangen“ sanft abzuprallen. Dem geheimen Zauber dieses seit Generationen besungenen Mondaufganges scheint die Entseelung der Welt durch die funktionalistisch- digitalisierte Weltsicht nichts anhaben zu können.
In den kleinen Tonschritten und mit ihrem gleichmäßig schreitenden Herzschlagmetrum der Vertonung des 1847 geborenen Schülers von Kirnberger (seinerseits Bach Schüler) Johann Abraham Peter Schulz („Ihr Kinderlein kommet“, „Wir pflügen und wir streuen“) – erschienen in der Sammlung „Lieder im Volkston, bey dem Claviere zu singen“ (1790) – scheint alle Zeit der Welt beschlossen und geschenkt zu sein. Ursprünglich hatte der Dichter Matthias Claudius seine Dichtung mit der wunderbaren Melodie des Paul -Gerhardt –Liedes „Nun ruhen alle Wälder“ unterlegt.
Wie urvertraulich tönt es aus diesen klangewordenen Worten und den wortgewordenen Klängen. Das unruhig-ängstliche Kleinkind ebenso wie der reife, auf andere Weise und von vielerlei anderen Mächten beunruhigte Mensch höheren Alters vermögen sich wiederzufinden in diesem schlichten Tongemälde.
Ein Wörtchen aber fehlt in den sechs Strophen gänzlich –das Wort Ich. Und doch ist ein „Ich“ hier präsent und dicht verkörpert. Es macht Dich und mich – Euch und uns – aufmerksam, hindeutend auf eine Welt im Außen und auf die eigene Welt im Innern – doch so sanft abgewogen, so gelassen ausbalanciert, dass das sprechende und tönende Ich des Dichters Matthias Claudius und das des Komponisten Johann Peter Abraham Schulz, gleich weit entfernt scheinen von einer luzid-übersteigerten Innerlichkeit der Seele einerseits und andererseits der blassen Nüchternheit einer veräußerlichten Naturbetrachtung, die mehr und mehr auf Schall und Rauch von bloßen informellen Benennungen und funktionalisierten Definitionen baut.
Wie heilsamer Balsam vermag das Lied in unsere singende und zugleich lauschende Seele einzuströmen. Es singen kann auch bedeuten: jemandem fühlbare Zeit schenken: dem Kinde beim Einschlafen, einem Chor, einer Gruppe von Menschen, sich selber. Gelassenheit, Geborgenheit werden fühlbar, ja, und auch Einsicht, die sich in die Seele einsenkt, wie ein Same ins Erdreich:
„Seht ihr den Mond dort stehen/ er ist nur halb zu sehen…“ . Da wird unser nächster Himmelskörper zum Gleichnis unserer oft so fatalen halben Wahrheiten, der gelebten wie der nicht gelebten Wahrheiten. Wie oft ertragen wir „stolzen Menschenkinder“ die sichtbaren oder unsichtbaren Hälften der Wahrheit, die ganzen Wahrheiten nicht, bestehen vielmehr darauf, dass unsere kleine, halbe Wahrheit die alleinige ganze und gültige sei …
Wie gut tut demgegenüber das „Verschlafen und Vergessen “, in dem viel eher ein „Dürfen“ denn ein „Sollen“ anklingt. Wir dürfen verschlafen und vergessen, was uns tagtäglich als fürchterliche halbe oder auch nur viertel Wahrheiten im Schein der Bilder als wahrscheinlich dargeboten wird … .
Aber was ist eigentlich das „richtige Wollen“, um zu „dem Ziel“zu kommen, das der zehn Jahre vor Bachs Tod (1750) geborene Matthias Claudius, von Beruf Dichter und Jounalist, noch im Auge hatte? Hat uns nicht die Sicherheit verlassen, dass wir uns auf ein sinnerfülltes Ziel zuzubewegen vermögen, wenn wir nur wollten? Wo und wie könnte diese Sicherheit – wiederum- zu finden sein?
Unsere vielen Künste und Künstler, die großen, sternenhaften Namen – was verheißen, was wissen sie darüber? „Wir stolzen Menschenkinder …, und wissen gar nicht viel…“ .
Vielleicht wäre Claudius, dieser aufgeklärte Dichter und Journalist im Fahrwasser Lessings und Herders, wenn er noch einen Schritt weitergegangen wäre, beim „Faust“ und dessen ruhelos-kainitischer Grundhaltung des „Habe nun, ach…“ innerlich angekommen …
Singen jedenfalls, verehrter Matthias Claudius, kannst du nicht gemeint haben mit diesen „vielen Künsten“, Künstlichkeiten und Abstraktionen, die uns „weiter von dem Ziel“ abbringen. Denn Singen scheint selbst gleichermaßen Weg und Ziel für uns Menschen zu sein – ein Ziel, das im „Gehen“ des Weges allein schon seine heilsame Erfüllung findet.
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10.Oktober 2019
Anmut und Würde
Während ich in der letzten verbliebenen von einst vier Buchhandlungen meiner Heimatstadt einen Tisch mit Neuerscheinungen langsam umrundete, innehaltend, in das eine oder andere Buch hineinlesend, ein Autorenfoto oder einen Klappentext überfliegend, drang durch das offenstehende gläserne Eingangsportal von draußen her ein anschwellendes, immer lauter lärmendes kindliches Stimmengewirr heran. Schon bald sah ich die Ursache: ein eiliger Zug von Schulkindern, je zwei Kinder Hand in Hand, in einem aufgeregt debattierenden, von Lachen und lebhaftem Geschnatter erfüllten Gänsemarsch. Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Wie gut kenne ich solche Situationen, wie vertraut war und ist mir diese lärmende Aufgeregtheit, das unstillbare Schwatzen der kleinen Münder, die kleinen Streitigkeiten, Reibereien und Empörungen, die Neugier und pulsierende Erwartung …
Eine ältere weibliche Lehrkraft marschierte vorneweg, blieb jedoch nun abrupt stehen und ihr harsches Kommando durchschnitt den Luftraum über der Einkaufsstraße. Passanten erstarrten vor Schreck. War etwas Schlimmes geschehen? Die Kinderschlange hatte abrupt gestoppt, und es entstand ein unvermeidlicher, von Geschrei und Gelächter, Gerangel, Püffen und Stolperern begleiteter Aufruhr mit teils unbeabsichtigtem, teils mutwillig-launigem Auflaufen der Hinteren auf die Vorderen der Reihe. Wieder bellte ein drakonisch- bedrohlicher Ordnungsruf des Cerberus durch die Luft, der jedoch nur für einen kurzen Moment Wirkung zeigte. Gleich schwoll das Gelärme der Stimmen wieder an, ebenfalls wie auf Kommando, jedoch ein unhörbares, unmerkliches. Die Kinder hatten jetzt offensichtlich zu warten, da die Schlange irgendwo gerissen war. Eine Lücke konnte da nicht geduldet werden. Wie wirkt denn so etwas auch, welchen Eindruck macht dies in der Öffentlichkeit? Wird nicht ein guter Lehrer immer noch auch daran gemessen, dass er „alles im Griff hat?“
Mir fiel bei wiederholtem Aufschauen nun eine jüngere Frau auf, die sich, versonnen lächelnd, aus dem pulsierenden, schwätzenden Schwarm der Kinder wie ein Leuchtturm hervorhob – ein Leuchtturm, der das Licht von wohlwollender Geduld und Nachsicht ausstrahlte. In den Gesichtszügen der Frau malte sich ein leises Amüsement über die quirligen, aufgeregten Menschlein, die hier so direkt, leidenschaftlich und lebendig miteinander kommunizierten. Und noch etwas strahlte sie in dieser Haltung aus: Schönheit, nicht die künstlich aufgetragene und demonstrative, sondern eine, die nichts von sich weiß, weil sich ihr Träger in einer Betrachtung oder einem Hinlauschen vergessen hat.
Und ich sah und spürte zugleich die Schönheit des Lehrerberufes in dieser momentanen Verkörperung von Zugewandtheit, von Klarheit, Wärme und Ruhe. Umso mehr hob sich die Erscheinung der jungen Frau ab, als ich zuvor den unleidigen, hart klingenden Cerberus erlebt hatte, diesen Bewacher und Zwinger, den Maßregler und Bestrafer – Vorbild und Muster der Tyrannen dieser Welt; zwei Möglichkeiten, zwei Pole, zwischen denen sich erzieherisches Handeln ausspannt: rigide Reglementierung im Kommandoton oder Zuhören, An- und Hinblicken und … Lassen.
Der Schriftsteller und Pädagoge Walter Kempowski bekannte einmal:“Pädagogik“ hat mich eigentlich nie interessiert. Ich wollte nur mit Kindern zusammensein. Pädagogik geht überhaupt nicht. Lieb sein und die Interessen der Kinder befriedigen, das ist alles.
Und:
„Ich habe in allererster Hinsicht immer dafür gesorgt, daß die Kinder so bleiben, wie sie sind. Und auch das war meine Maxime: der Lehrer soll die Kinder bestätigen in ihrem Sosein und immer wieder sagen: was du mir zu bieten hast, ist so unendlich viel reicher und geschlossener und harmonischer als das, was ich gezwungen bin, dir jetzt aufzupfropfen.“ (Walter Kempowski im Gespräch mit Siegfried Lenz, 15. November 1981).
Der „Leuchtturm“ aber hätte ihm sicherlich auch gefallen.
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29. September 2019
Fundstück
Die Dürre
„Wenn leblose Dinge lieben können, wenn Erde und Wasser Freunde von Feinden zu unterscheiden wissen, so möchte ich gern deren Liebe besitzen. Ich wollte, dass die grüne Erde meine Schritte nicht als eine schwere Last empfände. Ich wollte, sie verziehe es, dass sie um meinetwillen mit Pflug und Egge verwundet wird, und ich wollte, dass sie sich für meinen toten Leib bereitwillig öffnete. Und ich wünschte, dasss die Woge, deren blanken Spiegel meine Ruder zerschlagen, dieselbe Geduld mit mir hätte, wie eine Mutter sie mit einem stürmischen Kinde hat, dass auf ihre Knie klettert, ohne darauf zu achten, dass es ihr seidenes Festgewand zerknittert. Mit der klaren Luft, die über den blauen Bergen zittert, möchte ich gut freund sein, und mit der strahlenden Sonne und mit den schönen Sternen.
Doch es scheint mir oft so, als ob die leblosen Dinge mit den Lebendigen fühlen und leiden können. Welcher Teil des Erdenstaubes ist nicht schon im Kreislauf des Lebens gewesen? Ist nicht der wirbelnde Staub der Landstraße einst als weiches Haar gestreichelt, als wohltätige Hand geliebt worden? Ist nicht das Wasser in den Räderspuren einst als Blut durch pochende Herzen geströmt?
Der Geist des Lebens wohnt noch in den leblosen Dingen. Was vernimmt er in seinem traumlosen Schlummer? …
Wenn Unfrieden und Hass die Welt erfüllen, so müssen auch die leblosen Dinge viel leiden. Da wird die Woge wild und raubgierig wie die Räuber, da wird der Acker karg wie ein Geizhals. Aber wehe dem, um dessentwillen die Wälder seufzen und die Berge weinen! …
Wer den Zusammenhang der Dinge erkennen will, der muss die Städte verlassen und in einer einsamen Hütte am Waldessaum hausen, … dann wird er es lernen, die Zeichen in der Natur zu beachten, und wird es begreifen, wie die leblosen Dinge von den Lebendigen abhängig sind. Er wird erkennen, dass es die Unruhe auf Erden ist, die den Frieden der leblosen Dinge stört. … Niemals hatte die Frühjahrsflut schlimmere Verwüstungen angerichtet. … Kleine Flüsse, die sonst, wenn der Frühling sie stark machte, höchstens eine leere Scheune fortzureißen vermochten, gingen nun zum Angriff auf ganze Höfe über und spülten sie fort. Niemals hatte das Gewitter bereits vor Johanni so viel Schaden angerichtet – und nach Johanni blieb es gänzlich aus. Und dann kam die Trockenheit.
Der Regen wollte nicht fallen, … nur der Sonnenschein strömte auf die Erde herab. O dieser schöne Sonnenschein, dieser lebensspendende Sonnenschein, wie soll ich Worte finden für das, was er Böses tat? Der Sonnenschein ist wie die Liebe: wer kennt nicht die Missetaten, die sie begeht, und wer kann es lassen, ihr zu verzeihen?
Aus „Gösta Berling“ von Selma Lagerlöf (1858 – 1940)
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24. September 2019
… aber das Wichtigste in unserem Leben ist immer die Zeit. In der Zeit lebt die Seele.
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21. September 2019
„Und was das Allgemeine betrifft, so hab‘ ich einen Trost, das nämlich jede Gärung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu neuer Organisation notwendig führen muss. Aber Vernichtung gibt es nicht, also muss die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wiederkehren. Man kann wohl mit Gewissheit sagen, dass die Welt noch nie so bunt aussah, wie jetzt.“ (Friedrich Hölderlin, 1796, in einem Brief an den Freund Johann Gottfried Ebel)
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Wann wird man je verstehn?
Was ich dort unten von der Galerie der Nikolaikirche hoch überm Alten Markt erblickte, versuchte ich mir hundertfach vervielfältigt vorzustellen, in allen größeren Städten Deutschlands sich zur selben Zeit abspielend …
Ein buntes Menschengewimmel von vielleicht 1500 Menschen, kleine Grüppchen, Paare, Väter und Mütter mit kleinen Kindern und Kinderwagen, Schilder, Plakate in vielen Größen, teils bedruckt, teils in unbeholfenen Buchstaben aufgemalt. Aufbrandender Beifall, Johlen, Pfiffe, Trommelschläge, die mikrophonverstärkten, metallischen Stimmen der Wortführer hallen von tief unten herauf zu mir.
Die Sonne steht hoch am Himmel, gebauschte Wolken schweben über der nahen Havelbucht und in der Ferne gleißt das mittägliche Sonnenlicht auf dem Templiner See.
Der Ort, von dem aus einige Wortführer das Wort ergreifen, ist gut gewählt, denn Jeder und Jede, die von der steinernen Tribüne vor den mächtigen Eingangssäulen des Schinkelbaus sprechen, stehen herausgehoben und gut sichtbar über den Köpfen der mal wie hingestreuten, mal dichter zusammengedrängten Menschenmenge. Die Redner und Rednerinnen gleichen halb weltlichen, halb priesterlichen Volkstribunen, die von der Tribüne des Tempelbaus die Menge auf ihre Ziele einzuschwören suchen.
Dem rekonstruierten Schloss, das kein Königsschloss mehr sein will, aber dass eben doch eins darstellt, die gewählten Parteimenschen irgendwie unziemlich erhöhend, wendet die Menschenmenge den Rücken zu – abgewendet dem Ort, wo die Politik streitet, wo juristische Ausschüsse über Gesetzesentwürfen und Verwaltungsvorschriften brüten, wo die vielen falschen Versprechungen geboren werden und wo vor allem eins zuhause ist: die Taubheit, die Unfähigkeit zum Zuhören. Dort mögen sie jetzt wohl auch hinter den hohen Fenstern im Halbdunkel stehen und beobachten, wie die eben noch ruhende Menge in Bewegung gerät, sich träge in eine Richtung wendend.
Aus der amorphen Masse formiert sich nach und nach ein Tausendfüßler mit einem zehntausendfachen Gewusel von Beinen, einem Gewirr von Stimmen, skandierenden Rufen und Basstönen, wie antreibende Herzschläge dumpf pochend und pumpend. Immer mehr werden es, immer länger wird dieser riesige, bunte Wurm mit seinen zehntausend Gliedern, Augen und Ohren, der, als er sich endlich in seiner ganzen Länge formiert hat, immer entschiedener, immer drängender und unaufhaltsamer vorwärtstreibt.
Die Wortführer hatten zuvor klargemacht, worum es geht, wofür man steht und einsteht, wofür man sich in einer Bewegung formiert, und welchen Weg sich nun dieser tausendköpfige, von Minute zu Minute anwachsende Gliederfüßler durch die Straßen der Stadt suchen wird – eine selbststärkende Bewegung, so wirkt es von meiner Warte aus, gleich einem Körper, dessen Muskeln durch die eigene Bewegung unaufhörlich anschwellen.
Nichts wird dieses wummernde, pfeifende, johlende, lachende, trommelnde, skandierende oder murmelnde, bunt-heitere Wesen jetzt mehr aufhalten, bis es sich einmal im Kreise gedreht wieder an seinem Anfangspunkt angelangt ist. Die Menge wälzt sich äußerst lebhaft, teils lautstark -rabiat dem Autostau auf der anderen Fahrbahnseite entgegen, eine friedliche Begegnung. Die in ihren Fahrzeugen zum Stillstand gezwungenen, unzähligen vereinzelt aufgereihten Wagenlenker blicken stumm, teils gleichgültig oder gelangweilt, teils neugierig auf den vorwärtseilenden Tausendfüßler. Eine, die zur spät zur Arbeit kommen wird, ruft ärgerlich und ohnmächtig aus:“Aber i c h kann doch nichts dafür!“ Sie vergisst in ihrer begreiflichen, kleinen Angst vorm Zuspätkommen, was diese riesige anwachsende Blechschlange, wenn sie nachher wieder aus ihrem erzwungenen Stillstand entlassen sein wird, für ungleich größere Zwänge, ja eine Diktatur des Motoriats ausübt …
Wer weiß – vielleicht hat auch der harmlos dahinziehende Tausendfüßler seine Giftdrüsen, seine Giftstacheln, und es würde vielleicht nur eines entgleisten Rufs, einer emotionsgeladenen Parole vom rechten Mann zur falschen Zeit am falschen Ort bedürfen, um diese Menge in ein aufgebrachtes, gefährliches Wesen zu verwandeln: …“dann liegt es an uns, zu diktieren, wie die Gesellschaft auszusehen hat…”.
Von meiner Aussichtsgalerie schweifen meine Augen über die Dächer und Kuppeln der Stadt, über die gegenüberliegenden bewaldeten Hügel, den Park „Ohnesorge“, die glitzernden Havelseen, und gegen Osten in den Dunst über den schemenhaft erkennbaren hohen Gebäude der nahen Hauptstadt. Auch dort weiß ich gerade einen anderen Hunderttausendfüßler sich durch breite Alleen und Chausseen wälzen, auch dort steht der Autoverkehr in riesigen Blechschlangen still und lauernd. In wie vielen anderen größeren und kleinere Städten Deutschlands wohl noch?
Und rund um unseren Globus haben sich mit dem jeweiligen Höchststand der Sonne diese drängenden, unaufhaltsamen Bewegungen manifestiert, wellengleich über Länder und Grenzen und Kontinente der Erde hinweg … Gäa, Erde, M u t t e r Erde! Ich sehe Mütter und Väter mit ihren Kindern mit selbstgemalten Schildern in der Hand, auf denen immer wieder das Wort „Mutter Erde“ auftaucht … Hören wir deren Stöhnen, ihre Schmerzensschreie, sehen ihre Tränen und weinen mit ihr? Spüren ihre Atemlosigkeit, ihr Ersticken oder ihr schweres Atmen in den Stürmen? Erkennen, wie sie sich stürmisch wehrt in verzweifelten Tränenfluten? Verschlägt es uns noch den Atem im stummen Entsetzen über die Verwüstungen und entseelten Wüsten, dort wo sonst ihr Blut floss, und wo der Himmel sich in den Augen der Seen spiegelte? Als noch die Wälder, vom Gesang und Geschrei der Vögel und vom Summen der Insekten erfüllt, sich in ihrem Windatem wiegten? „Wann wird man je verstehn …“ .
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Auf des Sommers Waagschale
Stille Fülle,
Morgenglanz und Kühle,
Diamantener Tau am Thun.
Sonnenflecken leuchtend ruhn.
In den Zweigen wispern Meisen.
Winde flüstern ein Ade’
Ins goldene Ohr der reifen Rispen.
Raschelnd fällt ein roter Apfel nieder …
Langsam neigend – steigend wieder
Wiegt der Sommer mich.
10. September 2019
„… und die Welt hebt an zu singen/ triffst Du nur das Zauberwort …“ .(Eichendorff)
Eichendorffs geflügelten Vierzeiler mag man lesen als einen Traum, ein romantisch-idealistisches Gespinst, als eine kühne Vision oder als einen Mysterienspruch aus dem Vorhof des Zauberwortes. Aber gab, gibt es denn dieses Wort, diese M a c h t des Wortes, das die Lüge entwaffnet und gar das Verhängnisvolle, Böse und Vernichtende aufhalten könnte? Gab und gibt es diese Wortmächtigen? Ja, zweifellos. Das Rätsel bleibt, warum sie so oft trotzdem Opfer ihrer Richter und Henker wurden und immer wieder werden …
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2. September 2019
Im Kaufland
Wie ein Pfeil traf mich ihr Blick. Welche Lebendigkeit in diesem Auge und welcher Schimmer aus goldener, unergründlicher Tiefe! Ein Auge, in dem alles noch vorhandene Leben sich gesammelt zu haben schien, wie in einer letzten Aufbäumung gegen das unausweichliche, lebensfeindliche Element. Ein unbedingter Lebenswille war es, der mich aus diesem Auge traf, ja, mehr noch: ein Mitteilungswille, doch zu Ohnmacht, zu Sprachlosigkeit verdammt. Dieses Wesen, das seinen Blick unverwandt auf mich gerichtet hielt, voller Trauer darüber, dass es, zur Stummheit verurteilt, hier abgelegt war und sein Leben, sein Puls langsam aber sicher erstorben war, bis nur noch der lebendige Glanz seines einen Auges geblieben war – dieses Wesen, das zuvor einer unendlich weiten ozeanischen Welt durch ein stählernes Netz brutal entrissen worden war, ein Stahlnetz gleich einem unausweichlichem Verhängnis, beliebig jedes und alles, was ihm in den Weg kam, mit sich fortreißend, je länger je mehr zusammenpressend und quetschend, ein panisch zuckendes, riesiges Bündel, in dem jeder gegen jeden um Atemluft und Leben gekämpft hatte … : Nun ruhte es hinter einer gläsernen Kühltheke auf einem Berg kleiner Eisstückchen, abgelegt in einer sterilen Menschenwelt, in der Totes, das betrügerisch „Lebensmittel“ genannt wird, in absurden Massen und in einer bizarren- ausgeklügelten Ordnung aufgestapelt in einem Labyrinth von Gängen und Sackgassen, von Regalen, Schränken und tiefgekühlten durchsichtigen Särgen aufgehäuft dalag. Wie der letzte, lebend gefangene Fisch aller leergefischten Weltmeere schien mir diese Dorade, die mich mit ihrem starrenden Auge festhielt. Ergebenheit, Mitleid, ja Liebe sprachen daraus, wie aus dem Blick einer Holzskulptur des Gekreuzigten aus dem 12. Jahrhundert. Und ein Grauen stieg in mir auf vor dieser meiner plündernden, alles verschlingenden und verzehrenden Menschenwelt …
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1.September 2019
Taubheit auf dem inneren Ohr: Ein Mensch, der sich selbst nicht mehr hören kann. Die Folge: Er vermag sich nicht mehr von Innen her auszusprechen.
Gotik: sie strebt nicht nur hinauf in den Himmel, ins Himmelhohe, sie baut das Himmlische nach mathematischen Gesetzen nach.
Romanik: die heilige Höhle, die Krypta, Wohnung der Erdgöttin
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31. August 2019
Wozu wohl mehr Stärke gehört? Unbarmherziger, übelwollender Kritik standzuhalten, oder vor einer vorauseilenden, halbgöttergleichen Überhöhung und einem Personenkult unbeschadet an Seele, Geist, Motivation und Arbeitsethos weiter redlich zu bestehen? Ist d a s vielleicht die Rache jener Journalisten und Musikjournale, denen der Dirigent Kirill Petrenko seit Jahren die Interviews verweigert?
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23. August 2019
Ich hätte ihn – den großen Redner, Kommunikator den Reisenden, den wunderbaren Menschenöffner und Menschenbeobachter, den Liebenden der Stille, den brilliant-schlagfertigen Rhetoriker und Schriftsteller – gerne als Zuschauer und Zuhörer noch öfters erlebt – ihn, der wie eine Kerze mit zwei Dochten von zwei Enden zugleich abzubrennen schien (Roland Ropers). Jedoch seine Zeit war offenbar um, und – wie so oft bei großen Genies – scheinbar viel zu früh: einer der ganz Seltenen (im doppelten Wortsinn) redlichen Menschen, die im Fokus der Öffentlichkeit standen. Ein anderes Attribut wäre vielleicht noch: Er konnte mit dem Herzen denken und höchste Intellektualität mit Herzblut durchtränken.: Roger Willemsen. Ob es jemanden gegeben hat, dem er sich beweisen musste?
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22. August 2019
Als sie – endlich – damit aufgehört hatte, anderen gefällig zu sein, begann ihr wirkliches Leben. Maskerade, Kostümierung, gelegentliche Vorspiegelung falscher Tatsachen, gut gemeinte Rücksicht, Rechtmacherei, gutes Dastehen … . 92 Jahre Jahre alt war sie da gewesen, und es hatte dreier schwerster Operationen und des mühseligen Krankenbettes bedurft. In die andere Welt – die des wirklicheren Lebens – wäre sie andernfalls nicht hineingelassen worden … : Auch eine Art schwerer Reifeprüfung.
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21. August 2019
Krebs ist nicht so sehr Krankheit – Krebs ist vielmehr eine schmerzhafte Hinführung zum ureigenen Schicksal, zum E i g e n t l i c h e n.
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17. August 2019
Beim Gang über den alten Friedhof sah ich, wie sich zwar die Ästhetik der Grabgestaltung gewandelt hat und wandelt …
… vom schweren, schlichten Ernst des polierten schwarzen Granits, der Findlinge, der eisernen Kreuze und monumentalen Stelen mit Rang und Namen des Verstorbenen – hin zum Dekorativen und Demonstrativen, das oft mehr über die Hinterbliebenen aussagt, als über die Verstorbenen. Dass sich dahinein allzu Zeitgebundenes, mitunter Verspieltes, hineinmischt ist die eine Seite: Herzsteine mit Inschriften, Engelputten nach Raphaels „Sixtinischer Madonna“ in vielen Größen und Materialien und emaillierte Farbfotos des Verstorbenen gehören dazu, die die persönliche Bedeutung und Beziehung für die sogenannten Hinterbliebenen nachdrücklich aufzeigen – weniger wohl für den Toten, dessen vergängliche Überreste unter der Erde liegen. Oder verbirgt sich hinter diesen sinnlich-oberirdischen Zeichen des Totenkultes doch der Glaube, dass die Seele des geliebten Menschen diese Zeichen und Botschaften aus dem Dekor des Diesseits zu lesen, zu hören, besser: zu vernehmen versteht? All dies – auch der Kitsch und die pompösesten Steinmale – sind der Versuch des Brückenschlags, des Kontakthaltens mit dem Andern, kurz, der Liebe und der Sehnsucht und setzt die unsichtbare Realität des Toten voraus.
… auch wenn also sich das ästhetische Empfinden gewandelt hat – geblieben ist, wie schon seit den Zeiten etwa der christianisierten Wikinger, die ihren vornehmen Toten mit Kreuzen und Namen versehende Runensteine mit als Deckstein auf das Grab legten – ich denke an die jüngste sensationelle Entdeckung der Grabstätte der Wikingerfrau Kata im West-Götaland in Schweden (Kata Gård, Varnhem, Schweden) – geblieben also ist das Bestreben, den Toten einer namenlosen Vergänglichkeit zu entziehen. Name, Lebensdaten, schließlich auch Beruf oder Rang spielen eine immer größere Rolle.
Doch auch die Gegenbewegungen sind stärker geworden: anonyme Bestattungsplätze, Friedwälder oder Feuer- und Seebestattungen: der Einzelne geht zurück in die große Einheit und Namenlosigkeit der Elemente Feuer, Luft, Wasser, Holz und Erde …
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16.August 2019
Schreiben: der Versuch, den Schmetterling des unwiederholbarer Augenblicks einzuholen.
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15. August 2019
Wenn eine Maschine übersetzt:
“ …Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der Ruine der Kirche mit der Krypta, die in der Mitte des Gebäudes deutlich sichtbar ist. … Die Ausstellung ist die faszinierenden Grabungs Erkenntnisse und Ergebnisse in Zusammenhang sowohl lokal als in Singapur, sondern auch in Bezug auf die Außenwelt. Hier stellen wir Ihnen die Wikingerzeit in Singapur, über die Christianisierung, über die Reisen in den Westen, die Menschen in Varnhem, über das Leben und die Gesundheit des großen Hofes, die hier vor 1000 Jahren war.“ (Der Versuch einer maschinellen Übersetzung aus dem Schwedischen ins Deutsche. Zur Ausstellung „Katas Gård“ in Varnhem/ Schweden).
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13. August 2019
Feierabend
Vielleicht ist „Feierabend“ eines der schönsten, schwingungsfähigsten Wörter unserer Sprache, mit dem Spätsommer als seinem Resonanzraum? Dazu: Rudolf Alexander Schröder „Abend ward, bald kommt die Nacht…“. Welches Wort bildet die morgendliche Entsprechung dazu?
Morgenfeier
Spiegelglatt lag der See lag im Lichte des frühen Morgens da. Leichte Dunstschleier schwärten über der weiten Wasserfläche und den bewaldeten Höhenzügen. Über dem fernen Grundrauschen des Autoverkehrs lag eine erwartungsvolle Stille. Die durch die hohen Buchen- und Eichensäulen und smaragdgrünen Gewölbe hereinflutende Sonne öffnete mir im Licht- und Schattenspiel bislang unbekannte, ungesehene Räume. Dazu kam mir „All Morgen ist ganz frisch und neu …“(von 1541/42), das in seiner Verschmelzung von Wort und tänzerischer Melodie so zeitlos und belebend wirkt.
Die Natur kennt keinen Alltag. Ihr Wesen ist die Feier. Menschengemacht dagegen sind – von mir, von Dir, von uns allen: Verödung, Zersiedelung, Vernutzung, Verhüllung, Verschandelung, Missbrauch, bis hin zur scheinbar unwiderruflichen Verwüstung.
Ach, dieses Unwiderrufliche … ! Dagegen die vierte visionäre Sinfonie des Dänen Carl Nielsen: „Das Unauslöschliche“, komponiert ab dem Jahre 1914 und uraufgeführt 1916, mitten im ersten Weltkrieg. Wie recht und wie unrecht zugleich Nielsen hatte mit seiner ungeheuren musikalischen Vision … . Das Werk stellt heute noch eine Zumutung an seine Hörer dar und wird nur selten aufgeführt … .
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9. August 2019
Versteinerte Angst
Mühsam stiegen wir, von Hajdjeby kommend, durch ein Geröllfeld und wüsten Urwald hinauf auf ein riesiges Plateau, 68 m hoch über dem Meeresspiegel gelegen. Es gilt als die größte Fliehburg („fornborg“) ihrer Art in Skandinavien und trägt – als wollte man seit altersher ihre Besonderheit hervorheben, den Namen des Gottes Thor – der nicht nur der Donnergott, sondern auch der Gott des Mutes, der Angst und der Omnipotenz ist. In einer Grotte im Innern des Plateaus soll sich einer alten Überlieferung gemäß der Wohnort Thors, und an anderer Stelle sein Grab befinden – ein bedeutsamer kultischer Ort also, ein Tempel ohne Dach, an dem einst die Nähe der mächtigen Gottheit erlebt, zumindest aber angerufen und erhofft wurde. Die gotländische Gutasaga berichtet, dass eine große Menschengruppe dazu bestimmt worden war, das im 5. Jahrhundert nach Christus überbevölkerte Gotland zu verlassen. Möglicherweise suchten sie hier Schutz. Doch die Anlage – zur einen Hälfte aus natürlichen landschaftlichen Gegebenheiten bestehend, zur anderen künstlich aus von Menschenhand sorgsam geschichteten Mauern errichtet, ist viel älter und lässt sich schon auf weit vorchristliche gelegene Jahrhunderte datieren. Sie mag für tausend und mehr Jahre immer wieder in Benutzung gewesen sein, bis weit hinein in die nachchristliche Wikingerzeit.
Schroff abfallende Klippen begrenzen und schützen das Plateau, dessen Umfang etwa 5 km beträgt, gegen Südosten, gegen Südwesten aber erhebt sich eine aus Kalksteinen geschichtete Mauer, 7 -10 m hoch und bis zu 20 m breit. Mehr oder weniger gut erhalten erstreckt sie sich über eine Länge von 2 km. Ein schwedischer Forscher errechnete, dass zum Bau der mehrere hunderttausend Kubikmeter Stein enthaltenden Mauer einige Millionen Tagarbeiten erforderlich waren – Zahlen ähnlich z.B. denen der ägyptischen Pyramiden (nach Wolfgang Halfar). Das sind jedoch Ziffern, die letztlich erst einmal wenig veranschaulichen … .
Während vieler Aufenthalte hatte ich diesem Plateau keine Sehenswürdigkeit zugemessen, nichts gab es, was mich dorthin gezogen hätte – ein schwerer, vorurteilsschwangerer Fehler, wie sich nun herausstellte. Das teils erhaltene, teils eingestürzte geschichtete Mauerwerk machte auf mich einen geradezu ungeheuerlichen Eindruck. Keine Photographie vermag wohl diese gigantische aufgebaute Masse an Steinen in ihrer monumentalen Ausdehnung auch nur annähernd zu erfassen. Generationen von Menschen, von Sklaven müssen hier wohl über viele Jahrhunderte am Werk gewesen sein.
Doch die Angst, der Verteidigungszwang und Lebenserhaltungstrieb, das Schicksal, die diese Menschen antrieben, gehören einer nahezu namenlosen Vergangenheit an. Allenfalls am Beginn unserer Wanderung, im wüsten, durch ein riesiges Feuer im Jahre 1992 niedergebrannten Halbkreis des Plateaus, der von den steil abfallenden Klippen begrenzt wird, spürte ich ein Unbehagen. Wenn es böse, dem Menschen missgünstige Naturwesen wie z.B. Trolle gäbe: hier müssten sie hausen, auf Rache sinnend. Doch im gegenüberliegenden, sanfter ansteigenden Halbrund, das von der Mauer begrenzt wird, entfaltet sich im Frühling und Sommer das liebliche Reich der Feen, der Elfen, der Düfte, der Orchideen und des prächtigen Apollofalters. Alles hier lockt die Sinne und schmeichelt dem Auge, wenn man, auf dem schmalen Kamm des hohen Walles wandernd, das weite Gelände überschaut.
Nichts mehr ist übrig von der Angst, die einst die Menschen hier zusammentrieb und Schutz suchen ließ – nur noch die Versteinerung dieses Gefühls ist zu sehen, riesig in den Ausmaßen; unfassbar und schauerlich, sich die unsäglichen, qualvollen Anstrengungen und die Lebenszeit vorzustellen, die dafür aufgewendet werden mussten …
5. August 2019
Nordische Sommernacht
Der Wald, er findet noch nicht Ruh’,
obschon der Nachtwind sich gelegt.
Fernher ein Windrad flappt und murrt,
das ich bei Tage niemals höre,
und, gleich den Espen, die vom Tage ruhlos flüstern,
findet’s nicht des Endes Anfang.
Stimmen echoen durch die Stille
wie schwärmende Falter heller Nächte.
Überm Schattenriss der Tannen
glimmen erste Sterne auf.
Letzte Glut glost in der Asche,
und um uns her schleicht schon die Kühle;
Die Zeit hält ihren Atem an.
Je fern vom Andern
lauscht und sinnt ein Jedes,
ein jeder in sich selbst versunken:
Selig, wer sich nicht
verschließt dem Andern.
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10. Juli 2019
Glück und Sinn
Vor uns in einigem Abstand während eines abendlichen Strandspazierganges eine Familie mit drei Kindern. Zwei der Sprösslinge gingen – Brüderchen und Schwesterchen – Hand in Hand hinten, der kleinere Bruder an der Hand seiner Mutter. Vater und Mutter hielten sich zugleich eng umschlungen – ein Bild verbundenen, ja glücklichen Einvernehmens. Immer wieder suchten unsere Augen diese kleine vor uns gehende Menschengruppe, um sich dann wieder dem Farbenspiel des Abendhimmels und der aufgeregt girrenden und sirrenden Jagd der Küstenseeschwalben über uns oder draußen auf dem Wasser zuzuwenden …
Auf dem Rückweg begegneten wir der Familie wieder. Sie lagerten im Sande, während der Vater, der eben in der noch sehr kalten Ostsee ein heldenhaftes abendliches Bad genommen hatte, sich umständlich seiner Badehose entledigte und sich abtrocknete.
Wir schauten in strahlende Augen, Lächeln begegnete Lächeln, beglückt vom Glück und der Zufriedenheit dieser schwedischen Familie, und wohl waren sie auch beglückt davon, dass sich ihr Glück in unseren Mienen spiegelte: Spiegel im Spiegel, Synenergien, Augenblicke, unzerteilt vom Denken und Bewerten, in denen der Sinn menschlichen Daseins ganz unspektakulär aufleuchtete.
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4. Juli 2019
Die Amsel
Du singst den Blüten und dem Glanz des Morgens.
Ohn‘ Harm dein Singen
füllt’s selig alle Blütenkelche,
an denen ich mich schauend stille.
Sonnen, Sterne wachsen lauschend,
Knospen schwellen mit den Tönen,
und Früchte reifen süßer deinem Lied.
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30. Juni 2019
Beim Gang über den städtischen Friedhof blieb mein Blick am monumentalen Grabmal des Fregattenkapitäns a.D. Steinbrink haften. Aus der Inschrift ging weiterhin hervor, dass er Träger eines einst höchsten vaterländischen Ordens gewesen war. Der Hinweis auf den Orden und Rang des Verstorbenen, der zudem Ehrenbürger der Stadt gewesen war, im Verein mit dem vergleichsweise mächtigen steinernen Denkmal wirkten zusammen ernst und ehrfurchtgebietend, trotzdem befremdeten mich – wie auch an manch anderer Grabstelle, wo ein „Dr.med.“, „Kammersänger“, „Kirchenmusikdirektor“ oder „Oberlandesgerichtsrat“ dem Namen des Verstorbenen vorangestellt war, all diese einst wichtigen Titel und Ränge. Waren und sind denn die Seelen der Verstorbenen nicht mehr und bewegen sich nun in ungleich größeren Dimensionen als diese zu Lebzelten einst bedeutenden Attribute es festlegen? Auch die in emaillierten Rahmen auf den Grabstein oder das blank lackierte Holzkreuz reproduzierten Fotografien der Verstorbenen befremdeten mich, womöglich noch stärker, weil sie den Verstorbenen auf ein Bild, eine Momentaufnahme festlegen. Wirkt das nicht angesichts der zeitlosen Dimensionen des nachtodlichen Lebens geradezu bizarr? Um wieviel stimmiger dagegen der Äskulapstab über dem Namen und den Lebensdaten, oder ein Violinschlüssel – Symbole, die weit über die zeitgebundene Einzelpersönlichkeit hinausweisen: der Tote kann in seiner abgelegten, besonderen irdischen Prägung als Teil eines größeren Ganzen erinnert werden, aber gelöst von Rechtsformen und Konventionen, wie sie in eingemeißelten Titeln und akademischen Rängen zum Ausdruck kommen.
Der Friedhof lag unterm Glast der heißen Sonne des späten Vormittags still da. Hier und die da stand in ferner liegenden Gräberreihen eine einsame Person an einem Grab, hinabgebeugt oder mit einer Gießkanne die dürstenden Planzen tränkend. Wie wohltuend der Schatten der hohen Bäume war. Der Blumenstrauß, den ich auf das Grab meiner Mutter gestellt hatte – ähnlich jenen üppigen Sträußen, wie sie ihr mein Vater jahrzehntelang als Liebes- und Freudezeichen oft nach Feierabend aus seinem reichhaltigen Staudengarten mitgebracht hatte (ihr, mit der er 73 Jahre verbunden zusammengelebt hatte) – ihr bereitete dieser Gartengruß spürbar Freude: Blumen aus dem eigenen Gartenparadies, nichts Gekauftes, Gekünsteltes und Gezüchtetes. Und in dieser Freude spürte ich, wie die Zeitmembran, die mich vom „Drüben“ trennte, durchlässig geworden war.
Ich stand vor den Grabstellen meiner Mutter, meiner Großeltern, meiner Tante, meines Onkels, deren Grabsteine und Schriftformen in der gleichen Farbe und Form gestaltet sind. Beim Lesen der Geburts- und Sterbedaten verfiel ich auf ein kombinatorisches Spiel. Die Jahreszahlen, die Monate und Tage erschienen mir wie Larven, Maskierungen oder Verschlüsselungen eines tieferen Sinns. Aber die Maske der Zahlen saß fest auf dem Antlitz des Schicksals, das sich darunter verbirgt. Es will sich noch nicht zeigen. Erst, wenn ich durch die Zeitmembran hindurch auf die andere Seite des Stroms gelangt bin, wird sich’s mir entschlüsseln.
28. Juni 2019
Ferienerlebnis
Ich hatte mich in einem Park in ein Café gesetzt, ziellos, nicht wissend, was ich anfangen will, ein klassischer Fall reinster Langeweile, die sich oft nach einer Phase des Funktionierens einzustellen pflegt. Nach einer langen Weile kamen zwei überaus attraktive Frauen vorüber, offensichtlich Zwillingsschwestern. Die eine setzte sich, freundlich grüßend, auf den freien Stuhl zu meiner Rechten, die andere an meine linke Seite – eine unerwartete Gesellschaft, doch keineswegs unverhofft oder unwillkommen: die eine hieß Muße, die andere Muse, wie sich herausstellte, als wir nach kurzer Befangenheit in ein anregendes Gespräch gekommen waren. (Aufschlussreich war, was die beiden Schönen von ihrer bösen Stiefmutter erzählten. Dieser Dame möchte man am liebsten nicht über den Weg laufen, ist aber immer wieder mal unvermeidlich. Wie war noch ihr Name? – Irgendwas mit „Mamuss“ oder so ähnlich.)
Augenblick und Ewigkeit
22. Juni 2019
Ein einziger, kurzer Augenblick nur, der ausreicht, um jemanden oder etwas nie wieder zu vergessen.
Mittsommermusik
Jenseits des Lärms der sommerlich schwärmenden Stadt öffnete sich unvermittelt ein neuer, stiller Raum. Nur eine Stimme noch vernahm ich hier, im verwunschenen Marly-Garten unweit von Schloss Ohnesorge, und endlich glaubte ich zu verstehen, wovon und warum sie sang: „Keine Gefahr, keine Angst wohnt hier, nur Schönheit und Einklang von Himmel, Erde, Ich und Du …“ . So klang das Lied der Amsel.
Monique und Hans Dossenbach dagegen in „Das wunderbare Leben der Vögel“ hörten anderes heraus: „Aber natürlich singen die Vögel nicht für uns. Für mehr als die Hälfte aller Vogelarten ist der Gesang das wichtigste Mittel für die Paarbildung. Er hat grundsätzlich zwei Funktionen: Er dient als akustische Waffe bei der Besetzung des Brutreviers und dazu, ein Weibchen anzulocken.“
Woher nahmen die beiden diese unumstößliche, beinharte Sicherheit? „Hätten die Nüchternen einmal gekostet, alles verließen sie und setzten sich zu uns an den Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird.“ (Novalis)
Oder Konrad Lorenz, der am „Tisch der Sehnsucht gesessen“:
„Wir wissen wohl, dass dem Vogelgesang eine arterhaltende Leistung bei der Revierabgrenzung, der Anlockung des Weibchens, der Einschüchterung von Nebenbuhlern zukommt. Wir wissen aber auch, dass das Vogellied seine höchste Vollendung, seine reichste Differenzierung dort erreicht, wo es diese Funktionen gerade nicht hat.
Ein Blaukehlchen, eine Schama, eine Amsel singen ihre kunstvollsten und für unsere Empfindungen schönsten, objektiv gesehen kompliziertesten gebauten Lieder dann, wenn sie in ganz mäßiger Erregung „dichtend“ vor sich hinsingen.
Wenn das Lied funktionell wird, wenn der Vogel einen Gegner ansingt oder vor dem Weibchen balzt, gehen alle höheren Feinheiten verloren; man hört nur eintönige Wiederholungen der lautesten Strophen, wobei bei den sonst spottenden Art wie dem Blaukehlchen die schönsten Nachahmungen völlig verschwinden und der kennzeichnende, aber unschön schnarrende angeborene Teil des Liedes stark vorherrscht. Es hat mich immer wieder geradezu erschüttert, dass der singende Vogel haargenau in derselben biologischen Situation und in eben d e r Stimmungslage seine künstlerische Höchstleistung erreicht wie der Mensch, dann nämlich, wenn er in einer gewissen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt, in rein spielerischer Weise produziert.“
21. Juni 2019
Ferienzeit
„So musst Du sein, Du kannst Dir nicht entfliehn …„.(Goethe) Auch nicht in den Ferien, im Urlaub, auf Reisen?
Mittsommernachtsballade
Stille, laue Sommerpracht,
über uns der Sterne Funkeln …
Wachslicht schimmert durch die Nacht …
Rascheln, Tuscheln, Huscheln, Munkeln.
Da erwacht ein flirres Leben,
Kribbeln, Krabbeln, sirr Erregen.
Spinne eilt auf flinken Füßen
Kerzensonne zu begrüßen.
Ameisen wimmeln dicht an dicht
um den nächtlich irren Schein.
Schnöckes Silberspur windet sich zum Licht
durch achtlos ausgegoss’nen Wein.
Und ein Käfer, blindes Tier,
durchirrt den Lichtkreis voll trunkner Gier.
Das Kerlchen, da man es berührt,
sich listig leblos zusammenschnürt.
Da liegt er, kugelig, erschreckt –
für uns ein heit’rer Zeitvertreib:
Wir warten nur, bis er sich wieder streckt,
und dann … Da krabbelt ja sein Weib!
Mit rascher Hand wird sie genommen:
Der Käfer soll ein Weib bekommen!
Sanft wird gestoßen, gerollt und geneckt,
damit das Weib den Mann entdeckt.
Doch vergebens unser Ziel und Trachten.
Des Käfers Liebste eilt von hinnen,
entflieht entsetzt vor unsern Machenschaften.
Erstarrt verharrt der Käfer in sich drinnen.
Da rührt es an mich tief im Herzen:
Was, wenn alle unsre Menschenziele
wär’n solch ein Spiel von Götterscherzen,
ein flirtend Spiel von Liebesmächten,
die sich am Menschenwahn erheitern
in lauen Weltensommernächten …
20. Juni 2019
Mauersegler über der Stadt
An den Küsten des Abendlichts,
im Einklang selig kreisend,
jagen die Delphine der Lüfte
im lustvollen Spiel über den Häuserriffen
tief und tiefer,
den Grenzen des Himmelsozeans zu …
Ferne jetzt, nur noch zu ahnen,
ist ihr Silberjubel
vor den still glühenden Wolkeninseln,
himmelhoch, jauchzend,
zum Leben befreit.
19. Juni 2019
In Absurdistan:
Abminderungstatbestände, Anrechnungstatbestände, Profilmerkmale laut VV (Verwaltungsvorschrift)
Dagegenhalten mit: Socken auf dem Computer grillen, einen Pirol damit füttern und zum Nachtisch beim Licht einer Glühwürmchenlampe ein Vogelbeereis verspeisen. Das ganze bei Gewitterregen, nackt.
18. Juni 2019
Die Selbstjustiz des Selbstgerechten, Selbstherrlichen. Sein Plädoye lautet stets „unschuldig“ und Freispruch.
In „Generalmusikdirektor“ steckt auch „General“. Warum nur geht es so oft immer noch nicht anders als hierachisch, d.h. mit Kontrolle, Zwang und – mehr oder weniger direkter Gewaltsamkeit?
17. Juni 2019
Geschwindigkeit frisst die Erde auf.
14. Juni 2019
„Sobald ich den Klang von Musik höre, bin ich transformiert. Dann existiert kein Körper, kein Alter.“
So der schwedische Dirigent Herbert Blomstedt, geboren 1927.
13. Juni 2019
Über mir sah ich einen einzelnen Stern – war es schon der Sirius? – zwischen matt leuchtenden Nachtwolken glimmen. Ich empfand dabei plötzlich die tiefe, räumliche Abgründigkeit und Grenzenlosigkeit des Raumes. Eigentlich müsste mir jetzt schwindelig werden, d a c h t e ich, und versuchte, mir dieses Schwindelgefühl vorzustellen, jedoch vergeblich. A u f gründigkeit statt Abgründigkeit? Ein Begriff, den es nicht gibt, und der wenig überzeugend klingt. Warum wurde mir nicht schwindelig? Es ist die mysteriöse Schwerkraft, die mich hält, und die bewirkt, dass ich das Gefühl hatte, dass, anstatt in einen Abgrund zu schauen, ich nach o b en aufblickte.
Das Wunder des Zusammenklangs vom „Ich“ mit der „Schwerkraft“. Ist die Gravitation nicht das „Ich“ der Erde?
Ich betrachtete die rissig – gefurchte Rinde einer alten Pappel. Für die Ameisen, die emsig am Stamm auf- und niederkrabbeln, sind die Risse und Furchen wie riesige, schroffe Erdspalten, Schluchten, ja Grand Canyons – der Stamm wirkt wie ein autonomer „Erd“boden, ein eigener Kosmos, der Schwerkraft entbunden, wie ja auch der Baum als Ganzes der Schwerkraft entgegen lebt und in ihrer Überwindung eins der großen Wunder auf unserem Planeten darstellt. Auch die Ameisen, Käfer, Insekten leben entgegen und unabhängig von der Schwerkraft: ihr Referenzpunkt ist die Kraft des Lichtes, der Sonne. Die Schwere kann ihnen nichts anhaben, wohl aber die Lichtlosigkeit, die Kälte.
9. Juni 2019
Fundstück
„… Ich kann Dir meine Empfindung nicht erklären, es ist eine gewisse Leere – die mir halt wehe thut, – ein gewisses Sehnen, welches nie befriedigt wird, folglich nie aufhört – immer fortdauert, ja, von Tag zu Tag wächst.“ (Brief Mozarts an seine Frau Constanze vom 7. Juli 1791)
Dies lesend verstand ich das „Rex tremendae majestatis“ in Mozarts „Requiem“. Da baut Mozart eine kühne Brücke von ungeheuerlichen Dimensionen hin zu dem Ort, an dem diese Sehnsucht vielleicht gestillt werden kann … . Wer weiß?
30. Mai 2019
Vexierbild auf einem Grabstein (von CL. mitgeteilt)
„Endlich!“ – Inschrift auf dem Grabstein eines Menschen,
der sich vor seiner Endlichkeit gefürchtet
und nach ewigem Leben gesehnt hatte.
Am Sternenhimmel (aus der Werbebroschüre von First_Classics Berlin)
„… einer der angesagtesten Pianisten der Gegenwart. Er hat nicht nur das Zeug einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden. Er ist es schon!“
“ … mit ihm steht dem Kammerorchester ein junger Solist zur Seite, der mit seiner brillanten Technik und seinem gestochen scharfen Anschlag begeistert und an sich selbst die höchsten Ansprüche stellt.“
“ …Technisch perfekt und einfach meisterlich – ein philosophisch denkender Künstler im Zenit seiner Kunst. … Viele sehen in ihm einen der größten Beeethoven-Interpreten der Gegenwart.“
„Bach ist für den Pianisten das „A und O der Musik“, war von der ersten Klavierstunde an Ausgangspunkt seines künstlerischen Lebens- und seiner Karriere. … 2002 gewann er den internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig, im Jahr danach … erreichte sein Debütalbum sofort Platz eins der Klassik-Charts.“
„Perfektion und Seelentiefe. Er gehört zu jenen Pianisten, die in der Lage sind, selbst technisch anspruchsvollste Passagen in atemberaubendem Tempo vorzutragen. Kunst beginnt erst dort, so führt der Künstler es vor, beginnt erst da, wo die technische Beherrschung selbstverständlich ist.“
Der Senkrechtstarter. Mit kühlem Kopf, blitzschnellen Fingern und loderndem Herzen vermag der mehrfach ausgezeichnete Senkrechtstarter tief in die Geheimnisse der Musik vorzudringen – sensibel, nie sentimental und intelligent phrasierend.“
„Musik ist immer subjektiv. Er schlägt sein Publikum auf der ganzen Welt in seinen Bann. In Berlin ist er zum Kult, zur Ausnahmeerscheinung geworden. Welcher Pianist kann das schon von sich behaupten? … Er ist ein Bessenener, ein Fanatiker der Perfektion. … Man lauscht einem der größten Pianisten unserer Zeit.“
„Kein anderer Pianist hat die Klassikwelt in den letzten Jahren derart in Aufruhr versetzt wie er. Er ist der unangefochtene Megavirtuose der jungen Generation, der legitme Erbe, wenn es heißt, Oktaven und Akkorde explodieren zu lassen …“.
Und nun bitte mal richtig zuordnen:
Daniil Trifonov/ Grigory Sokolov/ Arcadi Volodos/ Martin Stadtfeld/ George Li/ Igor Levit/ Jan Lisiecki/ Rudolf Buchbinder
28.Mai 2019
Selbstgespräch
Was ist stärker als Stein? – Das Wasser.
Was ist stärker als Wasser? – Die Luft.
Was ist stärker als Luft? – Das Feuer.
Was ist stärker als Feuer? – Das Sein.
22. – 27. Mai 2019
Die venezianische Gambe von 1553
Zeitenferner Sang der Gambe,
gleichend glüh’ndem Kupfergold,
wehem Seufzen wie von Wüstenwind,
wie Wellenspiel am Felsenstrand
und Flüstern feierlicher Wipfel …
Ins Herz der Zeit machst Du uns lauschen,
und in der Atemstille ist’s,
als ob die Liebsten, die gegangen, nahn,
und schenkten Sein und Schöne.
Ach, Zauberwort Vergänglichkeit,
wer ihre Rätsel löste!
Doch wie Du spielst:
das ist das Rätsel und die Lösung.
(Nach einem Konzert Jordi Savalls in der Berliner Philharmonie am 22. Mai 2019)
10. Mai 2019
Das Smartphone: Das heraussezierte Innenleben des Gehirns in Teilaspekten, reduziert auf ein Rechteck von ca. 12 x 6 cm: ein Spiegelbruder oder eine Spiegelschwester im Westentaschenformat, welche – noch – vergeblich danach trachten, ihren Besitzer oder ihre Besitzerin ihrerseits zu besitzen.
Die durch GPS bedingte zunehmende Inaktivität jener Hirnregion, die für die räumliche Orientierung, das räumliche Vorstellen „zuständig ist, führt – laut der Hirnforschung – zur Verkümmerung der entsprechenden Gehirnzellen.
Welche Region im Menschen aber ist „zuständig“ für die Verbindung und Verbundenheit zwischen Menschen? Was passiert in dieser Region durch das Smartphone? Ein Verlust an Vertrauen? Eine Zunahme an Kontrolle und Isolation?
Warum er schreibt
„Das immerwährende, grundlose Bedürfnis, sich anzuvertrauen. Jeden Menschen daraufhin ansehn, ob es bei ihm möglich ist und ob er für sich eine Gelegenheit hat.“ (Franz Kafka, Tagebucheintrag vom 8.7.1912)
… „Immer wieder bin ich verblüfft, wie die Tatsächlichkeiten in der Reflexion ihren fiktiven Charakter freigeben. Erst in der Ausformulierung entstehen die Tatsachen, an denen ich mich orientierte. Ich vervielfache mein Leben durch die täglichen Notate, ja, ich erfülle es.“ (Walter Kempowski in einem Gespräch mit Volker Hage im Oktober 1994
Ich war ihm – diesem noblen Geist, genauen Beobachter und akribischen Schriftsteller – 1988 in seinem Haus „Kreienhoop“ in Nartum bei Zeven begegnet. Damals arbeitete ich zusammen mit seiner Frau Hildegard an einer Schule – eine streitbare Pädagogin, die gegenüber dem burschikosen und manchmal recht willkürlich handelnden damaligen Schulleiter kein Blatt vor den Mund nahm. Ich sehe Kempowski – er war selbst jahrelang als Dorfschullehrer tätig gewesen und damals noch im Status der „Beurlaubung“ – akkurat mit Anzug und Krawatte gekleidet in den „Turm“ hereinkommen, uns jovial und kollegial begrüßend. Seine Anfangsjahre als Volksschullehrer in dem Roman „Heile Welt“ … . In „Somnia“ bekennt er:“Pädagogik“ hat mich eigentlich nie interessiert. Ich wollte nur mit Kindern zusammensein. Pädagogik geht überhaupt nicht. Lieb sein und die Interessen der Kinder befriedigen, das ist alles.
Und:
„Ich habe in allererster Hinsicht immer dafür gesorgt, daß die Kinder so bleiben, wie sie sind. Und auch das war meine Maxime: der Lehrer soll die Kinder bestätigen in ihrem Sosein und immer wieder sagen: was du mir zu bieten hast, ist so unendlich viel reicher und geschlossener und harmonischer als das, was ich gezwungen bin, dir jetzt aufzupfropfen.“ (Walter Kempowski im Gespräch mit Siegfried Lenz, 15. November 1981).
Etwas befangen und sehr neugierig schaute ich mich dort um: die langgestreckte Bibliothek, der Flügel mit den aufgeschlagenen Noten von Bachs „Wohltemperierten Klavier“ … .
Acht Jahre hatte man Walter Kempowski in jungen Jahren im Gefängnis von Bautzen gestohlen. Rührte vielleicht nicht auch daher sein Impuls, die Stimmen, die schriftlichen Lebenszeichen und Zeugnisse Unzähliger vor dem Vergessen zu bewahren, wie im „Echolot“ verwirklicht? Ihnen ihr im „tausendjährigen Reich“ gestohlenes Leben zurückzugeben?
9. Mai 2019
Fundstücke zum Mensch sein
Gefunden in der Ausstellung „Weltreligionen, Weltfrieden, Weltethos“
„Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.“ (Rabbi Hillel, Sabbat 31.a)
„Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.“ (Matthäusevangelium 7,12; Lukasevangelium 6,31)
„Tut nicht Unrecht, auf dass ihr nicht Unrecht erleidet.“ (Koran, Sure2,279)
„Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm ist; das ist das Wesen der Moral.“ (Mahabharata XIII,114,8)
„In allen Ggenden, die es hier gibt, fand ich, dass jeder sich selbst am höchsten schätzt. Und so ist’s überall. Drum, wer sich liebt, bedenke, dass er andere nicht verletzt.“ (Udana V,1)
„Was man dir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“ (Konfuzius, gest. 479 v. Chr.)
„Lebe so mit einem Tieferstehenden, wie du möchtest, dass ein Höhergestellter mit dir lebe! Sooft es dir in den Sinn kommt, wieviel du dir gegen deinen Sklaven erlauben darfst, besinne dich auch darauf, dass deinem Herrn ebensoviel gegen dich erlaubt ist.“ (Seneca, gest. 65.n. Chr.)
„… die Ketten des Verhängnisses durchbrechen …“ (Manfred Kyber, 1880 – 1933)
4. Mai 2019
Die Bergnymphe
Ich zählte – fünf, sechs, sieben Sekunden … bis zur neuerlich eintretenden Stille, setzte mein Instrument wieder an, blies den Grundton, die Oktave …, und auch mit den Augen verfolgte ich, wie der Klang an den bewaldeten und felsigen Ufern des Stora Trehörningen entlangwanderte, ferner und ferner tönend und vervielfacht hin-und herfluktuierend, um schließlich wieder von der großen Stille aufgenommen zu werden. Wohin waren die Töne und ihre vervielfachten Echos geflossen? Der weithin tragende Klang, das wandernde, allmählich verklingende, höchst erstaunliche Echo öffnete den Raum, den See, die Inseln, Felsen, den Wald, den Himmel darüber ganz neu, und für die Dauer der enstandenen Stille wirkte die Natur magisch erweitert und vertieft, von Kräften und Ordnungen erfüllt: die Zeitmembran war durchlässig geworden. Echo, die Bergnymphe, Tochter der Hera, hatte ihre Klagelaute der Sehnsucht nach Narzissos angestimmt …

Die uralte Vorstellung, dass mit den Tönen eines Hornes oder auch von Glocken u.a. Unheil, Unwetter, Dämonen abgewendet werden konnten … . Dass ein Ton Schwingungsmuster erzeugt, geometrische Ordnungen hervoruft, ist eine bekannte Tatsache. Welcher Art ist der Raum, der von Klang, von Tönen erfüllt wird, jenseits des hörbaren Klangs?
Räume, die nach den Gesetzen des Klangs gebaut sind und ihre potenzierende Wirkung: z.B. die Berliner Philharmonie, die Kathedrale von Chartres, Fountenay in Burgund, St. Michael in Hildesheim …
Ein Raum wie etwa der große Saal der Berliner Philharmonie wirkt ohne hörbare Musik und ohne Publikum auf mich geradezu magisch. Das meint auch: Der Raum in seiner Stille wirkt mit Musik förmlich aufgeladen, auch dann, wenn kein einziger Ton erklingt.
Karfreitagszauber
Nördlich vom westgötaländischen Börstorps Slott, im 17. Jahrhundert durch den Freiherrn von Falkenberg errichtet, mündet der Friån in den Vänersee. Dunkel und unergründlich schlängelt das überraschend schnell sich verbreiternde Flüsschen, von hohen Schilfgürteln gesäumt, heimlich am Schloss vorbei. Nach wenigen Kilometern, während derer er Bruchwald, Wiesen und urwaldartiges Gebiet durchströmt, vereint sich der Friån gegen Norden mit dem mächtigen See in einer stillen, weit sich öffnenden Bucht, die nach etwa zwei Kilometern von der unbewohnten Insel Kiholmen und in östlicher Richtung von der Halbinsel Surö begrenzt wird. Nur selten veriirt sich ein Motorboot in in dieses abgelegene Gebiet. Untiefen und dicht unter der Wasseroberfläche lauernde Felsen halten ortsfremde Skipper oder Angler ab, dort herumzutuckern, und so herrschen Biber und der scheue Seeadler hier über die Jagdgründe.
Auf der teils sumpfigen, teils waldig-felsigen Halbinsel aber findet sich eine wundersame, große Hallenkirche, welche besonders im Frühling und Herbst die wenigen Besucher und Wanderer mit ihren herrlich durchleuchteten, weiten Gewölben überrascht und immer wieder anzieht. Der Buchenwald von Surö gilt vielen als der nördlichste in Schweden. Mag das nun stimmen oder nicht – der Schönheit und Harmonie des lichten Forstes, der sich zum Vänern hin mit urtierartigen, geschwungenen Felsformationen öffnet, täte es keinerlei Abbruch, wenn diese vom alten Falkenberg im 17. Jahrhundert angelegte Buchenwaldhalle nicht der nördlichste Standort der Buche wäre … .
Hier ist das Revier des Dachses und von Sing- und Greifvögeln wie dem großen Schwarzspecht, dem Buchfink, der Singdrossel, dem Rotkehlchen, der Blau- und Kohlmeise, des Waldkauzes, Uhus und auch der Schwarzdrossel. Letztere liebt die höchsten, ufernahen Zinnen dieser Waldkathedrale, von wo aus sie – ebenso engelgleich wie erdgebunden – in die unbegrenzte Weite des offenen Binnenmeeres hinein ihren Sonnengesang anstimmt, den Wald und die felsige Uferregion als Klangverstärker nutzend.
Die Bucht von Surö liegt im Windschatten von Kiholmen, und so ist es auch bei stärkeren Nordwestwinden, die tagsüber hier stark auffrischen können, bevor sie sich zum Abend hin legen, recht windgeschützt. Im Frühjahr hält sich darum hier in Börstorpsviken und vor Surö die Eisdecke des Sees länger als an weniger geschützten Stellen, die – oft in nur ein, zwei stürmischen Frühlingsnächten – krachend aufbrechen und an den Ufersäumen bergeweise klirrende Eisschollen hinterlassen. Tiefblau, mit weißem Schaum gekrönt unter der blauenden Tiefe des wolkenlosen Himmels, rauscht dann der aufgebrochene See in befreitem Jubel und in einer Frische, schön wie am Schöpfungstage.
Ganz anders aber an diesem Karfreitag. Es ist windstill, der Himmel erscheint in einem lastenden, monotonen Grau, die ganze Natur ist auf Moll gestimmt. Als ich vom Landweg aus den Weg durch den lichten Wald mit den hohen, silbergrau glänzenden Säulen zum Ufer nehme, lässt mich ein unerklärliches, summendes Grollen innehalten und lauschen. Je mehr ich mich, den Wald verlassend, den frei daliegenden Uferfelsen nähere, umso mehr schwillt das Summen an. Ich blicke über die geschlossene Eisdecke, von der das Murren und leise Donnern herkommt. Weit draußen sehe ich die schon offene Wasserfläche. Jetzt ein jähes Aufstöhnen, gleich darauf ein schussartiges Knallen … . In der Eisfläche hat sich ein langer, klaffender Riss aufgetan, indem das Wasser schwappt. Wieder ertönt nun, an- und wiederabschwellend, das beklemmende Donnern. Es ist die gespannte Eisdecke, vom bewegten Wasser darunter in Schwingung versetzt, die diesen dunklen Eisgesang angestimmt hat. Da -wieder ein Knall, diesmal weiter entfernt, in dem sich die Spannung entlädt. Der Donner ist leiser geworden, und in dessen Decrescendo mischt sich nun – erst jetzt werde ich dessen gewahr – der schmelzende Gesang einer Schwarzdrossel. In der Spitze einer hohen Erle, nahe beim Ufer, entdecke ich ihre Silhouette. Sie singt ihr Air in die Abendstille, weithin tragend, dann wieder drei, vier Sekunden pausierend, als lausche sie auf Antwort eines entfernten Du; eine einsam-wehmütige und doch lichte Stimme, in der schon Österliches tröstlich mitschwingt … .
25. April 2019
Fundstücke
Der gebürtige Bottroper August Everding (1928 – 1998) über seine Heimatstadt:
„Um den Bottroper kennenzulernen, sollte man in die Kirche gehen. Oder aber, man besucht die Vereine. Aber um den Bottroper wirklich kennenzulernen, muss man auf den Markt gehen. … Die Menschen hier sind nicht so verschlossen wie in Hamburg. Hier lebt man gern, feiert man gern. Hier singt man gerne. Auf der anderen Seite ist man jedoch nicht so öffentlich wie die Franzosen. So ist es eine schöne Mischung eines lebendigen, aber nie quaterigen Menschen, der zuviel von sich hergibt. … Viele Menschen sind zwar spießig und bürgerlich, aber es regte sich immer etwas in dieser Stadt. … Nie war es langweilig. Sie finden hier die meisten Männerchöre, wunderbare Kirchenchöre. Aber Sie finden hier auch Kegelclubs und Kunstbegeisterte.“ (August Everding war u.a. Intendant der Hamburger Staatsoper, der Bayrischen Staatsoper und Generalintendant der Bayrischen Staatstheater.)
120 Jahre früher, als Bottrop noch das Bild eines Dorfes abgab und vom Bergbau noch wenig geprägt war, sagte Mutter Spiekenboom über die Zeit um 1860 kurz und bündig:“Do kranken de Welt noch nich an de Krankheit wä so volle Menschen Menschen opfrätt, de sogenannte Kultur!“ (In etwa: Da krankte die Welt noch nicht an der Krankheit, die so viele Menschen auffrisst, die sogeannte Kultur)
.
23. April 2019
Was ist ein Wunderkind? In erster Linie wohl jemand, der in seiner Kindheit das Glück hatte, von anderen Menschen für voll genommen und erkannt zu werden. Die Geigerin Patrizia Kopachinskaja auf die Frage, ob ihre mehrsprachig aufwachsende kleine Tochter ein Wunderkind sei: „Sie ist kein Wunderkind, aber sie ist ein Wunder!“
22. April
Osterglocken in Güstrow
Sie singen vom Leben,
sie künden vom Oben.
Die Töne, sie schweben
und rufen und loben.
Im Vorhof der Sphären,
die Augen nicht sehen,
die Ohren nicht hören,
erklingen – vergehen
die dunklen Rufer,
die lichten, die hellen,
mit mächtigen Wellen
am Erdenufer.
Sie schlagen verklingend
vom wandelnden Leben,
der Zeiten verschwingend
vergängliches Weben,
vom Schicksal und Werden,
von Stund, Sein und Zeit,
vom Lieben und Sterben
und Ewigkeit.
6. April 2019
Auf dem Werbeplakat einer großen Bank vier junge, strahlende Banker:„Wir finanzieren Ihre Träume.“
Ob die Umkehrung dieses Satzes nicht wahrhaftiger wäre:“Wir träumen von Ihren Finanzen!“… Und ihre gebleckten Zähne verwandelten sich in die von Haifischen …
5. April 2019
Fundstück
„Es ist nicht modern was ich mache, aber auch nicht akademisch. Es ist eben sehr ich.“ (Die Malerin Lotte Laserstein (1898 -1993)
3. April 2019
Religionsbekenntnisse und Konfessionen: ein großer vielstimmiger Chor, Fugen und Kontrapunkte singend, von Gott dirigiert … Stammt dieser Gedanke von Albert Schweitzer?
2. April 2019
Humanität und Musik
Musik kann – vor allem da, wo sie perfektionistisch gemacht wird – ohne Humanität auskommen und betrieben werden, aber der Humanist wird niemals ohne Musik in seinem Leben auskommen.
Fundstücke
„Betrachten wir sonach die Kunst als Lebensfaktor von unermeßlicher Bedeutung, als Erzieherin zur freien harmonischen Persönlichkeit, so müssen wir als wichtigste soziale Forderung empfinden, den im Menschen schlummernden Künstler zu erwecken.“
Victor Ullmann (1898 -1944), „Entarteter“ Pianist, Dirigent und Komponist, Jude, Deutscher, Anthroposoph …
„Die Musik zieht alle Künste groß, kodiert alle Wissenschaften, haucht unter den Sprachen, akkreditiert die Gesellschaften, inspiriert jedes Denken, besser noch: rhythmisiert, umhüllt und verbreitet unsere Beweggründe und die geregelte, aber unerwartete Aufeinanderfolge der Zahlen; unter ihr, hinter ihr, zwischen ihr und diesem weitgefassten Mysterium, das alle Geheimnisse in sich birgt. Wer es entdeckt, spricht virtuell alle Sprachen und vernimmt alle Stimmen der Welt.“
(Michel Serres, französischer Philosoph, geb. 1930 in seinem Buch „Musik“)
Wünsche und Erwartungen sind ungebetene Gäste, die den anderen geladenen Gästen bei Tische ungefragt alles wegessen.
Es gibt Dinge, für die ist einer angeblich zu jung. Und es gibt dieselben Dinge, für die einer irgendwann – angeblich – zu alt ist. Wer aber ist der Angeber?
1. April 2019
Ein Feinschmecker mit der Vorliebe für die Haare in der Suppe.
Ein schlechter Kritiker ist jemand, der stets zu viel Salz in eine Suppe tut, so dass er sich einer Aufmerksamkeit sicher sein kann, die eigentlich zuerst dem Künstler und seiner Leistung gebührt.
Ein noch schlechterer Kritiker: der mit seinen Worten seinem Hören vorauseilt.
Wie wohl ein Kirchenchor klänge, der von einem Generalmusikdirektor geleitet würde?
Und umgekehrt: Höchststrafe für einen Generalmusikdirektor, der seine Musiker durch autoriäres Gehabe schikaniert: lebenslänglich einen katholischen Kirchenchor übernehmen müssen …
Einer, der einen anderen mit ausgesuchter Höflichkeit ins offene Messer wohlgesetzter Worte rennen lässt.
Musik als schwingendes Luftmenu‘ .
Nähe zwischen Menschen wächst in dem Raum, den Du freizugeben vermagst zwischen Dir und dem Andern. Nähe wird verhindert durch Wünsche, die sich in Erwartungen verstiegen und verhärtet haben.
23. März 2019
In einen Traum eingehüllt sein wie die Raupe in ihren Kokon. Wer bin ich dann beim Erwachen? Und wer ist der Andere?
21. März 2019
Kurzinterview
Die Frau mit dem Mikrophon in der Hand bewegte sich zielstrebig auf mich zu, gefolgt von einem großen, schwarzen Kameraauge auf zwei Beinen. Da gab es kein Entrinnen. Mit einem geschult strahlenden Lächeln begann sie: „Heute ist der Welttag des Glücks. Was bedeutet für Sie Glück?“
Da brauchte ich nicht lange nach einer Antwort suchen:„Begegnung!“ Sprach’s und ging meiner Wege. Ich sehe noch ihren Gesichtsausdruck, der im Versuch zu verstehen für eine halbe Sekunde erstarrte. Wie hätte ich mich ihr denn verständlich machen können? Indem ich ihr meine Begebenheit an der Fähre (s.18.3.2019) geschildert hätte …?
18. März 2019
Zwei Begegnungen
Ich öffnete die Haustür und bat den Erwarteten einzutreten. Einen Moment stand er zögerlich da, schaute mit fragendem Blick schräg an mit vorbei, als erblicke er jemanden im Hintergrund des Hausflures, dann nocheinmal. „Waren Sie schon einmal hier?“ fragte ich ihn. „Nein, in diesem Leben noch nicht“, kam die spontane Antwort. Ich stieg in dieses Gedankenspiel ein. „Aber vielleicht im nächsten … nein, ich meinte, im letzten Leben schon mal … nein, kann nicht sein – da stand dieses Haus ja noch nicht.“ Meine Korrektur hatte er aber wohl überhört und er entgegnete ernst und doch im selben leichten Ton wie ich, wo er im nächsten Leben sei, könne er jetzt noch nicht wissen, wahrscheinlich aber ganz woanders auf diesem Planeten.
Nachdem er seine Arbeiten verrichtet hatte, sagte er beim Abschied:“Na dann bis in einem Jahr, bleiben Sie gesund!“ Sprach’s und reichte mir seine rußgeschwärzte Hand, unerwartet und unaufdringlich, und während ich sie nahm und schüttelte, fügte er lächelnd hinzu: „Soll ja Glück bringen!“
Alles, seine Kippa, der angegraute Haaransatz darunter, das gedrillte Stahlseil mit der Kette daran und den schweren eisernen Birnen, die in der Morgensonne glänzten, als er sich sein Werkzeug über die Schulter hängte – alles schien in diesem Augenblick aufgeladen, irgendwie hindeutend auf etwas, was ich in diesem Augenblick aber nicht in Worte zu fassen vermochte und auch jetzt noch nicht. Irgendein verborgener Sinn schien sich zeichenhaft bemerkbar machen zu wollen, gleichsam zwischen den Zeilen des physischen Händedrucks, des Wort- und Blickwechsels, so, als wäre er hinter seiner Erscheinung eigentlich ein ganz Anderer, in der Kostümierung eines Kaminkehrers unterwegs. Vielleicht war es aber einfach nur das Glück, das er durch seine Anwesenheit mit eingelassen hatte, das ihm gefolgt war, und das nun in der Morgensonne bei mir verweilte, während er in sein Auto stieg und, nocheinmal winkend, davonfuhr …
Herzsprünge
Schon von weitem, vom anderen Ufer aus hatte ich sie gesehen, doch noch unsicher, ob s i e es wirklich sei. Meine Augen schauten gleichsam im Konjunktiv, halb wünschend, halb real. Doch noch war die andere Seite zu weit weg, um zwischen Einbildung und Wirklichkeit unterscheiden zu können. Ich stieg aus, entfloh für die Dauer der kurzen Fährüberfahrt der Enge meines Autos und lehnte mich an die Reling, der durchbrechenden Sonne, dem Wind, dem endlich wieder aufgerissenen, leuchten-blauen Himmel zugewendet, schloss die Augen, das Licht mit zurückgelegtem Kopf trinkend. Oder sammelte ich mich nicht vielmehr wie für eine bevorstehende Prüfung?
Ein kurzer, wie zufällig hingeworfener Blick zum Anleger aber gab mir jetzt Gewissheit, und zugleich setzte in meiner Brust ein pochender Rhythmus ein, eine Musik, die zuvor im Piano eines spannungsgeladenen Akkordes auf Auflösung wartete, oder als hätte ich vor etwas Lampenfieber in seiner überwältigenden Mischung aus Angst und tiefer Freude … Und auch sie hatte mich entdeckt, vielleicht – auf dem Präsentierteller des Autodecks – schon länger und gewisser als ich ich sie. Doch spielte das jetzt, da ich, die Fähre verlassend, auf sie zufuhr, keine Rolle. Denn da war nun nichts mehr von Konjunktiv, nichts von „Wenn und Aber“, nur die Freude an den geschenkten, gegenseitig geschenkten Augenblicken, dem aufleuchtenden Erkennen und den einander zuwinkenden Händen, während ich an ihr, die auf die Fähre gewartet hatte, vorüberfuhr …
Samenkorn eines Gedichtes
Das Auge, das dich sah. Herz und Seele, die dich fühlten, mit dir schwangen. Und die Hand, die dies wiedergab.
Meine Augen sind das Flügelpaar eines Vogels mit Namen Ich. Die Augen, denen ich begegne, sind die Flügel des Vogels Du.
17. März 2019
„Ich will geliebt sein oder ich will verstanden sein. Das ist eins.“ Bettina von Arnim (geb. Brentano, 1788 -1859)
Am Grab dieser außergewöhnlichen Frau im Schlosspark zu Wiepersdorf

Inschrift: „Die Flügel schenk dem abschiedsschweren Geist, dass er sich leicht der schönen Welt entreisst.“ (Achim von Arnim in „Die Kronenwächter“).
An Bettina von Arnim
Wie oft geliebt? Wie oft verstanden?
Wie oft gehofft, gewartet und gesehnt?
Wie oft gewagt? Wie oft geflohn?
Wie oft begehrend ? Wie oft verirrt?
Wie oft so sicher? Wie oft getäuscht?
Wie oft gewusst? Wie oft vergessen?
Wie oft gebrannt? Wie oft verbrannt?
Wie oft verstehend? Wie oft verstanden?
Wie oft begehrt, wie oft erfüllt?
Wie oft gestillt –
geliebt und liebend?
16. März 2019
Die Geigerin Patricia Kopachinskaja über Schönberg und die heutige Musikarchäologie:
Patricia Kopachinskaja im Interview:
Fundstücke
Der Dekan der Universität Straßburg Stöber im Juni 1772 über einen seiner Studenten:
“ …. dieser hat eine Rolle hier gespielt, die ihn als einen überwitzigen Halbgelehrten und als einen wahnsinnigen Religionsverächter nicht eben nur verdächtig, sondern ziemlich bekannt gemacht. Er muss, wie man fast durchgängig von ihm glaubt, in seinem Obergebäude einen Sparren zuviel oder zuwenig haben. Um davon augenscheinlich überzeugt zu werden, darf man nur seine vorgehabte Inauguraldissertation „De Legislatoribus“ lesen, welche selbst die juristische Fakultät …. unterdrückt hat; weil sie hier nicht hätte können abgedruckt werden anders, als dass die Professoren sich hätten gefallen lassen, mit Urteil und Recht abgesetzt zu werden.“
Dieser „Halbgelehrte und aberwitzige Religionsverächter brauchte wohl diesen „einen Sparren zuviel oder zuwenig in seinem Oberstübchen“, um in dieser Zeit nicht nur seine Dissertation zu verfassen, sondern auch den „Götz von Berlichingen“ und zwei Jahre später den „Werther“ zu dichten, um mit diesen Dichtungen zwar kein Jurist, aber zum europaweit gefeierten, anerkannten Autor namens Johann Wolfgang Goethe zu werden … . Wer kennt heute noch den damals mächtigen Dekan Stöber?
Ungefähr zur selben Zeit erkennt Wilhelm Heinse denselben jungen Mann so:
“ ...ein schöner Junge von fünfundzwanzig Jahren, der vom Wirbel bis zu Zehe Genie und Kraft und Stärke ist; ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer mit Adlersflügeln, der in der unerschöpflichen Fülle des Ausdrucks stürmt.“
12. März 2019
Dialog
„Wie gerne besäße ich den Schlüssel zu Deinen Ängsten. Ich würde unverzüglich die Käfigtüren öffnen und sie freilassen.“
„… .“
„Ja, ich weiß. Einige verlassen sogar den Käfig erst gar nicht, auch wenn die Türen Tag und Nacht sperrangelweit offenstehen. Und andere kehren alsbald zurück.“
Wie gehen doch Fähigkeiten, die Du nicht übst und frisch erhältst, nach und nach verloren. Sie verlassen dich: Fingersätze, motorische Abläufe, die du traumwandlerisch beherrscht hattest … Bruchstücke sind noch übrig. Immerhin ein Trost, dass Du alles auch nach Jahrzehnten wieder heraufholen kannst, wenn auch mühsam. Oder nicht vielmehr: müh s e l i g? Schönes Wort, das Mühe und Seligkeit vereint.
Mühsal: darin steckt die Würze des Lebens, sein starker Geschmack: Sal= Salz.
„Sal“ aber ist auch mit „Sol„= Sonne wortverwandt.
6. März 2019
Handschrift des Schicksals
Die Handschrift des Schicksals in den Physiognomien der Menschen. So gleichen die Eindrücke der vielen, unbekannten vorübergleitenden menschlichen Antlitze – etwa im Foyer eines Konzertsaales oder auf einem Bahnhof – einem unbekannten Buch, nicht selten in einer gänzlich unbekannten Sprache geschrieben … . Doch in einigen wenigen Büchern beginnst du sofort neugierig-gespannt zu lesen. Ein – zugegeben seltener – Blick nur schlägt sie auf.
5. März 2019
Welch ein Musiker und Dirigent! Einer, der sich völlig in der Musik vergisst. Einer, der zum Kind wird, springt, lacht, der vor der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs, Mozarts oder Haydns zutiefst aufschreckt und andere erschreckt. Einer, der seine Aufregung nicht „cool“ überspielt. Dem das distanzierte Gehabe des teils sehr verwöhnten Berliner Auditoriums ganz egal ist: Die Vielen, die ihn überheblich belächeln in seiner kindlich anmutenden, heftig ausbrechenden Freude, seinem Humor, seiner Lebhaftigkeit, seiner buchstäblichen Springlebendigkeit, seinem von der Musik übervollen Herzen: ein Siebzigjähriger mit der Ausstrahlung eines Siebenjährigen, wenn er sich in die Brandung und das Meer der Musik wirft … „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“
Und: „Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Und wie kann dieser Mensch namens Ton Koopmann Orgel und Cembalo spielen!)
4. März 2019
Hand, Mund und Herz
Welch eine Virtuosin auf der Harfe! Ihre schlanken Hände – gleich einer besonderen Art von vielfüßigen Tieren, flink und ungeheur zielsicher – eilten, strichen, rührten, griffen in die Saiten ihres vergoldeten Instrumentes – eine erstaunliche Harfenistin ging hier zu Werke, schön und schlank im langen blauen Kleid mit seinem Faltenwurf, wie bei einer der klassischen Mädchenskulpturen Schadows. Ihr Partner – ebenfalls französischer Herkunft wie sie – umwarb sie mit seiner vergoldeten Querflöte. Ein Liebesspiel ist dieses Konzert für Harfe, Flöte und Orchester C-Dur von Mozart, ein beständiges Werben, Verfolgen, Flirten, ein Sich-Vereinigen und wieder Lösen, lebhaft, temperamentvoll, leidenschaftlich, jubelnd und überschäumend, im langsamen Mittelsatz auch voller ernster, sehnsuchtsvoller Nachdenklichkeit und tiefer, träumerischer Ruhe. Von manchen Kritikern wird dieses Stück als oberflächlich und vergleichsweise unbedeutend abgetan. (Sagt das möglicherweise nicht auch etwas über diese Kritiker aus?)
Am Ende, unter der warmen Dusche des Beifalls in der Berliner Philharmonie, nahm der Flötist – ein ebenfalls gutaussehender, temperamentvoller Virtuose – spontan die rechte Goldhand der Harfenistin und drückte sie an seine Lippen – heutzutage eine ungewöhnliche, ja fast ausgestorbene Geste, erst recht auf einem Konzertpodium. Das Publikum quittierte diese Galanterie mit deutlich anschwellendem Beifall und Geraune.
Und die schöne Harfenistin? Was tat sie, schlagfertig, nein, kussfertig wie sie war? Sie drückte dem Flötisten zu dessen freudigem Erstaunen einen Kuss auf seinen Goldmund … die verdiente, einzig wahre Antwort und der einzig wahre Schluss dieser berauschenden Musik Mozarts …
(So h ä t t e es eigentlich enden müssen … doch i h r Kuss auf den Mund des Flötisten – blieb nur ein flüchtiges Bild zwischen Tag und Traum, das zur Wirklichkeit werden w o l l t e, aber es nicht schaffte. Der Riese Tutmannicht war stärker …).
1.März 2019
Ein Muskel, den Du nicht benutzt, verkümmert. Und so ist der Film zwar nicht der Tod des Traums, aber er ist der Tod des Träumens.
26. Februar 2019
Gibt es einen anderen Monat, in dem die Lichtfülle der länger werdenden Tage so überwältigend wirken kann wie im Februar? Noch dazu bei einer Wanderung in der ausgedehnten Havelaue, die an die Marschen Niedersachsens oder Frieslands erinnert? Der Strom, den Fontane so oft beschrieben hat, ist gesäumt von breiten Schilf und Bruchwaldgürteln. Ein Deich folgt seinem unbegradigten Verlauf. Dahinter: monotones, monochromes Grasland, von mit dem Lineal gezogenen Entwässerungsgräben und Kanälen durchschnitten. Hier waren keine Künstler, Landschaftsgestalter am Werk vom Range eines J.P. Lenne‘ sondern kühle, berechnende Landschaftstechniker, Funktionalisten. Aber dem leuchtenden Himmel, der über diese Landschaft herrscht, können sie nicht beikommen. Immer wieder feierten diesen Himmel Kolkraben, der Busshard; die ersten Formationen von Zugvögeln waren zu sehen. Deren Zeichnungen am Himmel gleichen rätselhaften Handschriften, während die Kondensstreifen der zahlreichen Flugzeuge einer Druckschrift gleichen.
18. Februar 2019
Traumbegegnung auf der Zeitmembrane mit Nikolaus Harnoncourt. Nach einem anregenden Gespräch verabschiedeten wir uns mit einem verbindlich-herzlichen „Auf Wiedersehen am nächsten Sonntag beim Konzert“. Dabei ergriff mich zugleich mit der Freude Traurigkeit: wir hatten ein Wiedersehen verabredet, das es nach meinem Erwachen nicht geben konnte und geben würde …

9. Februar 2019
„Götter des Olymp“ im Museum Barberini in Potsdam: statuierte Exempel überhöhten Menschentums.

4. Februar 2019
Schneeflocken: in Wasser konserviertes, kristallisiertes Licht.
1. Februar 2019
Die Schwerkraft als Teil der Weltordnung. In der Weltordnung ist aber auch eine „Leichtkraft“ (vielleicht nicht zufällig wortverwandt der Lichtkraft). Sichtbar wirkt die Leichtkraft z.B. in den Bäumen, die das immer wieder unbegreifliche Wunder ihrer Statik bewirkt.
Wenn du Dinge, Angelegenheiten, dich selbst wieder ins Lot bringst – etwas, was aus dem Lot geraten war – so ordnest du sie in die Ordnung, in die Harmonie deiner Welt oder der Welt in größerem Maßstab wieder ein. Das schafft eine erneuerte, innere Statik.
Eine ebenso einfache wie tiefsinnige Imagination ist es, die „1“ – als Ausdruck der Einheit – als Senkrechte darzustellen, in ihrem Streben nach „Oben“ noch verstärkt durch die links angesetzte Hälfte einer Pfeilspitze. Als räumliche Geste ist die „1“ viel mehr als nur Ausdruck, Zeichen für ein Quantum. Sie ist Symbol des Ausgleichs, der Verbindung und Harmonie zwischen „Oben“ und „Unten“ innerhalb einer möglichen oder tatsächlichen Weltordnung, die sich – von der „Eins“, der Einheit, in die Vielheit auffächert und ausdifferenziert.
31. Januar 2019
Die Resistenz Rechtgläubiger. Sie zementieren ihre Standpunkte dadurch – das Wortpaar Lüge – Wahrheit benutzen diese Leute dabei auffallend häufig – , dass sie u.a. Verschwörungen aufzudecken vorgeben, heimliche, verheimlichte, letzte Ziele und Methoden unbekannter Mächte oder Fädenzieher: häufig Projektionen und Wunschvorstellungen, geboren aus Demütigung, Ohnmacht und Machtgier, und die ihre bedeutungssteigernde, reißerische, emotionsgeladene Wirkung nicht verfehlen. Da heißt es kühlen Kopf bewahren.
Beschwören „sie“ nicht z.B. immer wieder die „Lügenpresse“? Da berichtet nun kürzlich dieselbe aufgewühlte Presse über einen Anschlag auf einen rechtsstehenden Politiker, der einem nächtlichen, heimtückischen Angriff zum Opfer fiel. Da er mit einem schweren Kantholz von hinten niedergeschlagen worden sei, wird die Tat als heimtückischer, politisch motivierter Mordversuch gewertet. Nach einigen Tagen aber kommt zweifelsfrei heraus – wiederum durch Teile der „Lügenpresse“ verbreitet – dass der Politiker den „mörderischen Schlag mit dem Kantholz“ erfunden und den zweifellos stattgefundenen brutalen Angriff also erheblich dramatisiert hatte, u.a. auch dadurch, dass er ein Foto seiner Platzwunde veröffentlichen ließ. Warum wohl?
Berichtete nun der rechte Blätterwald über diese neuerliche Wendung des Falles? Nein, der angebliche Mordversuch mit dem Kantholz, der mit begieriger Empörung aufgegriffen worden war, wird als nützliches Faktum weiter aufrechterhalten, und ihr Urheber als Märtyrer weiter benutzt. Aber: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ – heißt es nicht so?
19. Januar 2019
Fundstück
… „Die Führer und Handbücher teilen zungenfertig mit, dass die Große Pyramide von einem Pharao der IV. Dynastie, Khufu, von den Griechen später Cheops genannt, erbaut wurde, weil er ein erstklassiges und wirklich einzigartiges Grab, das eines Königs würdig sei, haben wollte, und dass nichts weiter dahinter ist. Und für eine bequeme, konventionelle Theorie ist die Erklärung, dass es sich nur um ein großartiges Grabmonument handle, zweifellos die beste. Sie wird unterstützt von allen bedeutenden Gelehrten der Ägyptologie, der Archäologie und der alten Geschichte; also beugen wir das Haupt vor den orthodoxen Autoritäten, und nehmen wir, was sie sagen, respektvoll hin.
Es gibt allerdings auch unorthodoxe Theorien. Die Meinungen, die um dieses alte Bauwerk aufgebaut wurden – und es sind ihrer viele – reichen vom völlig Unwahrscheinlichen bis zum wissenschaftlich Möglichen, weil die Pyramiden groß und wichtig genug sind, um als erfolgreicher Jagdgrund für Sonderlinge zu dienen …“ . (Paul Brunton in: „A Search In Secrets Egypt“. New York 1935, zitiert nach der Übersetzung von Gräfin Hilde von Schlippenbach, Zürich 1951)
Fundstück
„Deshalb dürfen wir aber nicht annehmen, wie einzelne „Forscher“ immer wieder behaupten, dass diese Pyramide Jahrtausende vor dem Alten Reich von Göttern oder Raumfahrern erbaut wäre und dass sie allerhöchstes Geheimwissen enthielte.“ (Dieter Kürth, em. Professor für Ägyptologie in Hamburg, Autor u.a. des Jugendbuches „Das alte Ägypten“. Erscheinungsjahr 1981, seither weitere Neuauflagen).
An der „großen Pyramide“ scheiden sich also – heute mehr denn je – die Geister, wenn es um die Frage geht: „Was ist Wahrheit?“ Als Ganzes ist sie mehr als die Summe ihrer Teile; Materie, wie sie gewaltiger, mächtiger, schwerer nie wieder künstlich errichtet worden ist, und zugleich durchdrungen von Ordnungen und geistig-ideellen Verbindungen in Räumen und Zeiten, die das menschliche Bewusstsein seit Menschengedenken zu verstehen, zu enträtseln suchte und sucht.
Selbst dann, wenn Forscher in die geheimen, unentdeckten Kammern vordringen mittels modernster Technik – mit Strahlen, Bohrern, Robotern und Endoskopkameras: finden sie nicht dort nur ihr eigenes Nichts, ihre Gier, ihren Ehrgeiz? Monstren, Ungeheuer, erschreckende doppelgängerhafte Wesen vielleicht. Auch die sogenannten Aliens der Science Fiction im entseelten und entgeisterten Weltraum mit seinen unbekannten Himmelskörpern stellen Projektionen von Kräften dar, die in ihren Erfindern selber schlummern. Novalis‘ Jüngling zu Sais ist der Prototyp solcher Sucher und solchen Suchens und Entdeckens.
14. Januar 2019
Das Eigentliche
Der berühmte Archäologe und sein Team waren sich ganz sicher, dass sie vor einer großen, epochalen Entdeckung standen, vergleichbar wohl der des großen Schlieman. Nie zuvor in 3000 Jahren hatte jemand die unlängst mit modernster Technik aufgespürte geheime Kammer vor ihnen geöffnet, kein Grabräuber sie geschändet oder geplündert. Alles war unversehrt, und er war nun der Erste, der seinen Blick hineinwerfen und seinen Fuß hineinsetzen durfte. Und als nun, endlich, die Öffnung groß genug war und er im Innern der bislang geheimen Kammer stand, klopfenden Herzens, und er um sich blickte im Schein seiner Lampe, da realisierte er, dass der Raum vollständig leer war. Für einen Moment wurde ihm schwindlig und es schien ihm in seiner jäh aufwallenden Enttäuschung und Erbitterung, als seien Jahre des Forschens und mühseliger Kleinarbeit sinnlos, und der im Stillen erhoffte Ruhm nur eine verlöschende Fata Morgana.
Jedoch im Licht seiner Lampe und ihrem Schattenwurf begriff er plötzlich, dass die Kammer keineswegs leer war. Wie ein Blitz traf ihn, was er gewahrte – SICH SELBST. Im selben Augenblick aber, da ihm dies geschah, entwich der Geist, den die Erbauer der Geheimkammer vor Jahrtausenden in diesen Raum gebannt hatten wie in eine Flasche, mit einem jäh aufseufzenden Luftzug durch die aufgebrochene Wand ins Freie.
9. Januar 2019
Musik hören und erleben als ein Entwicklungsgeschehen, das sich zunächst noch horizontal zielgerichtet und in einem Nacheinander bewegt. Dann verdichtet und beschleunigt sich das Geschehen so, dass die Bewegung eine Skulptur aus Klängen bildet, die im Raum steht. Dieser Raum aber hat sich zugleich verwandelt in einen Raum, der aus Zeit besteht.
Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit I
Fundstück aus Richard Powers „Der Klang der Zeit“ (Fischer Verlag, Frankfurt 2014):
„Weißt Du was Zeit ist? … Zeit ist das Mittel, mit dem wir verhindern, dass alles zugleich passiert.
Ich antworte, wie er es mich vor langer Zeit gelehrt hat, im Jahr meines Stimmbruchs: Weißt du, was Zeit ist? Zeit heißt einfach nur, dass eine bescheuerte Sache nach der anderen passiert.
Die Zeit muss man sich wie eine Vielzahl von Akkorden vorstellen. Kein Nacheinander von Akkorden. Ein gewaltiges polytonales Knäuel, in dem sich die gesamte horizontale Musik zusammenballt.“
8. Januar 2019
Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit I
„Alles hat seine Zeit…“.
Zumeist las ich diese Stelle aus Prediger 3, 1-15 mit der Betonung auf „Zeit“. Das Rätsel „Zeit“, das uns Menschen umtreibt, wird jedoch, wenn ich die Betonung auf „seine“ lege, ein wenig verschoben. Ist aber „seine Zeit“ als „Gottes Zeit“ gemeint? Oder ist damit die individuelle Daseinsspanne irgendeines Menschen, Wesens, Tuns oder Dinges gemeint?
Adalbert Stifter fragt 1866 in seinen noch sehr aktuellen Betrachtungen zu Raum und Zeit in „Der Silvesterabend“ wie es wäre, wenn vielleicht die Zeit und der Raum gar nichts Wirkliches wäre? Wenn Zeit und Raum nur die Einrahmungen wären, in denen unsere Vorstellungen haften müssen, das Gesetz für unsere Vorstellungen, aus dem wir nicht herauskönnen?
Demnach wären Gott und andere Geister in der Zeitlosigkeit oder eigentlich Ewigkeit. Dann ist keine Zukunft, also auch kein Wissen in die Zukunft, sondern ein Wissen überhaupt, und der Zwiespalt zwischen der Voraussicht Gottes und der Freiheit unserer menschlichen Handlungen ist nicht mehr da.
Stifter lässt diese Frage offen.
Der Prediger erkannte: Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er in ihr Herz gelegt, da sonst der Mensch das Werk, welches Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende herausfinden könnte....
(In einer anderen Übertragung heißt es dagegen: … nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.)
Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun … Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
Entgegen allem Vergänglichkeits-Trübsinn, der eben auch seine Zeit hat, folgert der Prediger, dass es nichts Besseres dabei gibt, als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
Aber, wohlgemerkt: dies folgert er n a c h, nicht vor seinen Mediationen.
Und Bach – früh verwaist und Vater von zwanzig Kindern, von denen neun überlebten – überzeugt mit einer ähnlicher Haltung – mit einem heiteren, lebenszugewandten musikalischen Gestus im lichtdurchfluteten Eingangschor seiner berühmten Kantate „G o t t e s Zeit ist die allerbeste Zeit.“
Seine Musik gleicht den alten Kirchenfenstern, die du von Außen anschaust, die aber von Innen her durchleuchtet sind, oder umgekehrt, wenn die Sonne von Außen ihr Licht durch die farbigen Fenster bricht und dabei das Maßwerk, die silhouettenhaften Muster der einrahmenden Steine dunkel, ja schwarz erscheinen. Sie gleichen dem Verlustschmerz, der Trauer, die Bach sein Leben lang begleiteten. Der Engel des Todes, der Bach umarmt hielt.
1.Januar 2019
Fundstück
„Leis auf zarten Füßen naht es,
vor dem Schlafen wie ein Fächeln:
Horch, o Seele, meines Rates,
laß dir Glück und Tröstung lächeln –:
Die in Liebe dir verbunden,
werden immer um dich bleiben,
werden klein und große Runden
treugesellt mit dir beschreiben.
Und sie werden an dir bauen,
unverwandt, wie du an ihnen, –
und, erwacht zu Einem Schauen,
werdet ihr wetteifernd dienen!“
(Christian Morgenstern, 1871 – 1914)
31.12 2018
Gegen 20 Uhr im TV Bilder, die den Jahreswechsel auf der anderen Seite unseres Globus zeigten, ein gigantisches Feuerwerk „nie gewesenen Ausmaßes“ vor der Skyline Sidneys. So schaute ich in einen schon vollzogenen Jahreswechsel, einer Vergangenheit in einem Moment der Gegenwart, der mir zugleich etwas Zukünftiges zeigte, auf das wir uns zubewegten und das in wenigen Stunden auch in unseren Breiten vollzogen werden würde. Der Globus rollte dem entgegen – so auch im Frühjahr und Sommer beim Erwachen der Vögel und ihrer Symphonie, ihrem Sonnengesang, der sich über die Erde wie eine an- und wieder abschwellende Welle tönend hinbewegt.
29. Dezember 2018
Kater Nicki, der sich so oft unvermittelt und hingebungsvoll zu putzen beginnt. Immer wieder hält er dabei urplötzlich inne, schaut, fixiert etwas für meine Menschenaugen Unsichtbares. Aber endlich verstand ich heute seine Körpersprache. Sie lautet: Ich will mit mir im Reinen sein.
25. Dezember 2018
Vergangenes im Gegenwärtigen
Abendlicher Gang, Hand in Hand, durch die Altstadt, die sich rings um Sankt Marien hinduckt. Der schon recht hoch liegende, lautlos herabschwebende Schnee dämpft die Geräusche der Stadt; unsere Schritte knirschen im funkelnden Pulverschnee. Die Kirche mit ihrem hohen gotischen Chorfenstern, die von innen goldfarben strahlen und die Musik, die von dort gedämpft zu uns dringt – sie wirkt wie ein riesiger geheimnisvoller Kristall, nein, ein eigener Kosmos gar, mit einem eigenen Himmel aus hohen Gewölben, von mächtigen Säulen getragen.
Lange hatte ich zuvor dort im Innern den überlebensgroßen geschnitzten Engel angeschaut, mit dem gewundenen Schriftband in der Hand: „Gloria in Excelsis Deo…“. Der Engel blickt unergründlich ernst, der frohen Botschaft zum Trotz und doch auch angemessen; die Bibel erzählt vielfach von Engelerscheinungen, die zunächst einmal Angst und Schrecken beim Unvorbereiteten auslösen. Ein namenloser Bildhauer hatte ihn während des zweiten großen Krieges geschaffen, dem bedrohten Leben, dem Sterben, dem allgegenwärtigen Tod abgetrotzt, und dies wohl ergab die intensive Präsenz des Standbildes hoch über unseren Köpfen, die weit über die künstlerisch- handwerkliche Meisterschaft hinausreichte.
Nun soll es nach Hause gehen, doch der kleine, ziellose Umweg verschafft uns ein staunendes Eintauchen in die Atmosphäre der verzauberten Stadt und des leuchtenden und klingenden Kirchenbaus. Zuhause locken das Weihnachtszimmer, das schon seit einer ganzen Woche verschlossen ist. Dort bemerken wir ab und zu geheimnisvolle Aktivitäten. Jemand Unsichtbares macht sich immer wieder zu schaffen, rätselhaft, wie dieser in das abgesperrte „gute Wohnzimmer“ hereinkommt. Doch auch, wenn mein gewagter neugieriger Blick durchs Schlüsselloch zu keiner Erkenntnis führt, ahne ich, ahnen wir, wer dort am Werke ist.
Und nachher, wenn wir zuhause ankommen, wird die Tür des Zimmers endlich geöffnet werden, auch für mich. Im nun einsetzenden, übermächtigen Festgeläute, das vom Turm der Marienkirche in mächtigen, tiefen, ernst-feierlichen Tonwellen heranschlägt, fasse ich die Hand, die mich hält, fester. Sie gibt mir Sicherheit vor diesem Größeren, das mich beim Anblick der von Innen leuchtenden Kirchenfenster, dem fernen Orgelbrausen und nun dem Tonmeer der Glocken ergriff und zu überwältigen droht …
(Der, dessen Hand ich hielt, war mein Vater, Heiligabend 1962 auf dem Heimweg von der Christvesper).
Heilig Abend 2018
Botschaft der Engel
Krippe und Stall,
Ochs und Esel,
Hirte und König,
Vater und Mutter,
Kind und Stern –
All dies bin ich,
Alles zu seiner Zeit
ist in mir, in Dir.
Woanders nicht.
17. Dezember 2018
Fundstück
„Dummheit ist durch Affekt gesperrter Intellekt. So entsteht das Phänomen der Dummklugheit, das kluge Menschen oft so töricht reden und handeln lässt. Ärger verdummt, – Dummheit kann tödlich werden.“ (Karl Förster in “ Warnung und Ermutigung – Mehltaubefall der Seele“).
6. Dezember 2018
Kindermund
Sehr ernsthaft und gekonnt trug ein neunjähriger Junge den Liedtext „O Tannenbaum“ vor. Die erste und zweite Strophe fehlerlos, in der dritten Strophe jedoch hatte er unbeabsichtigt eine kleine Umdichtung vorgenommen, die sehr gut zu dem kräftigen Bürschlein passte:
„O Tannenbaum, o Tannenbaum, dein Kleid will mich was lehren. Die Hoffnung und Beständigkeit/ gibt Trotz und Kraft / zu jeder Zeit , O Tannenbaum, o Tannenbaum…“.
Von Herz zu Herz
Der Flötenspieler von Sanssoussi – ein hochgewachsener, beherzter Lette, der seit Jahren an der historischen Mühle neben Schloss Sanssoussi in einem historischen Kostüm als „Friedrich der Große“ für die zahlreichen und zahlenden Touristen auf der Querflöte spielt – war zu Gast auf einem dörflichen Nikolausmarkt in der Nähe. Er und ich hatten das Vergnügen, gemeinsam zu musizieren. Die lebendigen Flöten- und Akkordeonklänge waren offensichtlich Ohrenöffner für viele Besucher, vor allem für einige der Kinder, die von der prächtig kostümierten und virtuos aufspielenden Gestalt des legendären Preußenkönigs magnetisch angezogen wurden. In einer Pause steht plötzlich die kleine J. vor mir, nestelt an ihrem Geldbeutelchen herum und hält mir schließlich ein Geldstück hin:“Das ist für Dich, weil Du so schön mit dem Flötenspieler Musik gemacht hast.“
(Nach kurzem Zögern nahm ich ihre Gabe freudig an. Ist denn eine wertvollere Gage vorstellbar?)
Dieselbe
Die kleine J., bei der ein Hirntumor diagnostiziert wurde. Die Anstrengungen der Chemotherapie sind ihr ins Gesicht geschrieben. Sie erzählt mir von ihrem Bruder, der Schillers „Ode an die Freude“ im Musikunterricht gelernt habe. „Ich kann es auch schon!“, verkündet sie mir ernsthaft und stolz. „Soll ich es dir mal vorsingen?“ Und da steht sie vor mir, schaut mich unverwandt an, während sie die erste Strophe „Freude, schöner Götterfunken“ ohne zu stocken singt, mit all ihrem berührenden Ernst und kindlicher Direktheit, während sich meine Augen langsam mit Tränen füllen. Es ist mir in diesem Moment, als sähe ich sie unter dem Schatten Seiner sanften Flügel – den Flügeln des Todesengels, der zugleich der Engel des Lebens ist – geborgen auch in der hochgestimmten, heilenden Zuversicht von Schillers Worten. Als sie geendet, sagt ihr Blick : „Ich werde leben“.
2. Dezember 2018 (1. Advent)
Fundstück am 1. Advent
Ich hörte heute die Paulus-Worte aus dem Römerbrief: „Seid niemandem etwas anderes schuldig, als dass ihr euch untereinander liebt, denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt … die Liebe ist die Erfüllung der Gebote. Und weil wir dies wissen, ist es Zeit aufzuwachen. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes.“
Was könnte – wortwörtlich – der Geist des Judentums mit seinen strengen Gesetzen sein?
Den „Körper des Christentums“ – Jesus – hat beispielsweise der Religionswissenschaftler Pinchas Lapide schon vor Jahren tiefgreifend aus seiner tiefen Verwurzelung im Judentum heraus bestechend klar beschrieben und gedeutet. Für den Geist aber, der diesen Körper bewohnte, hatte Lapide offensichtlich keinen Sinn. Glich er darin nicht dem russischen Astronauten, der nach seinem Weltraumausflug – ganz systemgetreu – sagte, er habe nirgendwo einen Gott gesehen?
(Dagegen: „Wie ein Säugling im Schoß der Mutter. In meinem Raumschiff bleibe ich immer das Kind der Mutter Erde.“ So der polnische Astronaut Miroslav Hermaszewski.)
1. Dezember 2018
Staatskonformes Kabarett
An jenen Kabarettisten im TV, die nicht mehr die Gegner der herrschenden Ideologien und ihrer Köpfe sind, sondern die mehr und mehr zu deren Handlangern mutieren, ist „Hopfen und Malz verloren“. Es gibt Kabarettisten, die wie Alibibeschaffer agieren, und die mittlerweile im Deutschen Bundestag ein und ausgehen: Totengräber echter politischer Satire; ein Hofnarr ist wohl nur dann echt, wenn er zwar geduldet, aber verhasst ist, und stets muss er um Leib und Leben fürchten.
Parteipolitik jeglicher Couleur kommt mir mittlerweile vor wie gemeine Fallenstellerei: Gruben, abgedeckt mit Absichtserklärungen, Versprechungen, falschem Lächeln, moralischer Überheblichkeit und Rechthaberei: am Ende fallen a l l e herein, auch die Fallensteller selbst.
Die Sanduhr (oder“langsam ist schneller“)
Es mag in jedem menschlichen Leben einen Zeitpunkt geben, wo einer oder eine mit Erschrecken wahrnimmt, dass die Zeit läuft. Dann sind wir sehr versucht mitzulaufen oder gar schneller zu sein. Richtiger wäre: innehalten.
29. November 2018
Im Roman „Fischkonzert“ von Halldor Laxness beschreibt der Ich-Erzähler eine Erinnerung an seinen Großvater. Der kleine Junge nimmt wahr, dass der alte Mann die Tür zu seinem Zimmer immer angelehnt lässt. Das allein gibt dem Jungen das Gefühl, dass der Großvater für ihn da ist, anwesend ist, auch wenn er mit anderen, eigenen Dingen beschäftigt und nicht zu sehen ist.
Viele kluge Elternratgeber wären wohl überflüssig, wenn Eltern für ihre Kinder einfach da wären – im Bilde: wenn sie ihre Türen angelehnt ließen.
25. November 2018
Timing
Der wache Augenblick – nicht von ungefähr wird dieses visuelle Auf-den-Punkt-kommen mit einem präzisen Zeitpunkt assoziiert. Wenn du nicht hinsiehst ist’s vorbei, eh Du dich versiehst.
(Oder, für Musiker: Wenn Du nicht h i n hörst, ist’s vorbei, eh Du es vernommen.)
21. November 2018
Ich entsinne mich lebhafter Diskussionen während eines Ferienlagers in den Kitzbühler Alpen zwischen uns damals vierzehnjährigen Gymnasiasten, vor allem mit N., einem frühreifen und höchst intelligenten Mitschüler, der später im Leben nach Amerika gegangen ist, um dort als Physiker zu arbeiten. Er nahm nichts als einfach gegeben hin: Wie, wenn alles, was wir sehen, greifen etc. nur in unserer Einbildung existieren würde? Die sogenannte Realität nur ein Produkt meiner Vorstellung, welche ihrerseits nur ein Produkt von Vorstellungen …: „die Welt, zu Flugsand zerdacht“ (Chr. Morgenstern), Seifenblasen.
Es gab Nächte, in denen wir hellwach im dunklen Gemeinschaftszimmer in unseren Betten lagen, hörten unseren gedämpften Stimmen wie den Stimmen von Unbekannten zu und genossen die Freiheit und den entgrenzenden Reiz solcher und anderer Gedankenspiele. Tagsüber aber suchten unsere Augen die Augen zweier wunderschöner Mädchen, die zu einer Gruppe von Jugendlichen in einem Nachbarhaus gehörten. Auch dies: eine erste Wahrheitssuche auf der Welle der Verliebtheit.
Ist nicht Beziehung, Verbindung zu einem Menschen alles andere als Einbildung, Seifenblase? Wenn ich mich in Verbindung fühle, weiß ich um den Referenzpunkt meines Ich: da ist das DU, mein Gegenüber, nicht selten auch mein Gegner oder meine Gegnerin. Dem widerspricht nicht Trennung oder Abbruch einer Beziehung, z.B. durch den Tod. Im Gegenteil: Der Schmerz bewirkt die Konfirmation einer Beziehung in der Wirklichkeit.
Psalm
Wir suchen Seine Nähe nicht.
Wir suchten zu entfliehn
Verbargen uns vor Ihm in unseren Höhlen,
bedeckten uns mit Feigenblättern,
kletterten hoch auf dichtbelaubte Bäume
oder kauerten im Schatten ihrer Stämme,
unter Dächern und Decken;
machten Es unsichtbar mit Scheuklappen,
hielten unter Wasser den Atem an
fast zum Ersticken –
immer in der Hoffnung,
Es gehe vorüber,
ohne unserer gewahr zu werden.
Doch untrüglich und sicher
fand Es mich, dich, und jeden noch.
Komm, fass meine Hand,
ich geb Dir meine!
Und auch, wenn Du es lässt …
so oder so sind wir verbunden:
in Ihm, dem Leid,
dieser Liebe der Erde
zu uns flügellosen Engeln,
voller Sehnsucht
nach dem Himmel auf Erden.
15. November 2018
Ihr Klavierbegleiter spielte, als hätte er auf sein Spiel eine Lebensversicherung abgeschlossen. Und sie? Sie spielte wie eine Akrobatin am Hochtrapez – doch ohne Netz.
Genies wie die Ausnahmegeigerin Patricia Kopachinskaja zahlen für ihre Gaben mit der denkbar wertvollsten Währung: mit ihrer Z e i t, die sich zugleich auf wundersame Weise vermehrt …
14. November 2018
Wir wissen sehr wohl beim Erwachen, dass wir „nur“ geträumt haben. Aber wenn wir träumen, wissen wir in aller Regel keinesfalls, dass wir „nur “ träumen. D o r t ist alles möglich und sehr real: bedrohlich, bedrückend, erotisch, voller Musik und leuchtender Farben, Landschaften, unbekannte uralte Orte, Städte, Bäume usw.
Das Aufwachen gleicht dann manchmal einer Art von Schiffbruch, und ich greife nach Traumbruchstücken, die mich tragen und an denen ich mich festhalte, während ich am Ufer des Erwachens und dem „Land des Tages“ zu mir komme.
Am Ende eines höchst bedrohlichen Traumgeschehens, jedoch wieder in Sicherheit, überraschte mich der Anblick eines lebhaft sich gebärdenden Esels in einem großen Vorgarten. Zwei weitere, physiognomisch sehr individuell geformte Esel erblickte ich in unmittelbarer Nähe vor meinen Augen: auch diese beiden sprangen umher und bäumten sich nach der Art von Wildpferden. Ganz nahe schon am Erwachen zückte ich schnellstens mein Handy, um von diesen so realen Traumtieren noch ein Bild festzuhalten. Dabei war ich mir ganz sicher, dass ich das Bild nach dem Erwachen aus dem Traum auf meinem Handy vorfinden würde. ‚R. wird staunen, wenn ich ihr diese Traumbilder zeige,‘ dachte ich, in Erinnerung an ein Gespräch über sogenannte „Krafttiere“ und „Kraftorte“.
Ich will derartige Träume, in denen etwas die Zeitmebran zu durchdringen sucht, sammeln und ihnen nachgehen. Aber wie nachgehen? Und: wohin würde einen das führen? Jedenfalls bestimmt n i c h t in die Funktionalität.
13. November 2018
Von Einem oder Einer, die auszogen, um im Fluss der Zeit nach dem Gold des Ewigen im Augenblick – dem Erlebnis des „Vergänglichen als Gleichnis“ – zu schürfen.
Das Dämonische in den wirkenden Mächten und Gegenmächten einer Epoche – so auch gegenwärtig – definiert nicht die Wirklichkeit (wie etwa der Glaube an den Teufel es einst tat), sondern „die“ Wirklichkeit definiert sich selbst als Dämonisches.
Im Einzelnen, in einer einzelnen Persönlichkeit wird das nur selten sichtbar, geht unter in der Fülle der scharf und schnell wechselnden Bilder und Schnitte (Max Picard beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „Hitler in uns selbst“, erschienen kurz nach 1945), jedoch in der Wirkung von Ideen, Ideologien, Gedanken und Handlungen, die sich wellenartig ausbreiten, manifestiert sich etwas Unpersönlich-Dämonisches sehr stark.
Genau dies ist ein Charakteristikum des Dämonischen: dass es etwas aus dem einzelnen Menschen abspaltet und einem Fremden, einem großen Ganzen, einfügt, einverleibt, dessen Zwängen sich das Individuum unterworfen, ja ausgeliefert fühlt, an das es gebunden ist und von dem es mehr oder weniger stark angesogen und absorbiert wird. Da verkörpert sich e i n Pol des Dämonischen: in einer Rationalität, in der sehr niedrige Temperaturen herrschen: das kalte, lebensfeindliche Feuer der „Schneekönigin“ (Andersen) mit ihrem „Eisspiel des Verstandes“.
12. November 2018
Ich hörte eines der unzähligen, unbegreiflichen Wunderwerke Bachs aus seinen Kantaten. Währenddessen saß Nicki mir gegenüber und widmete sich hingebungsvoll der Pflege seines Körpers. Unvermittelt hielt er inne, starrte mit weit geöffneten Augen und aufgestellten Öhrchen in einen unbekannten, fernen Raum. Ob es – wie bei mir – jener Raum war, den die Musik Bachs geöffnet hatte?
Jedenfalls: des Katers Blick ergriff mich, wie mich Bachs Musik ergriffen hatte.
7. November 2018
Mich interessiert nicht so sehr Deine Wahrheit, sondern mich interessiert vielmehr, warum Du und wie Du zu dieser Deiner Wahrheit gekommen bist.
Sie kam ihm nahe wie eine Liebende, und schaute durch ihn hindurch wie eine Fremde: ein unlösbares, abgründiges Rätsel.
6. November 2018
Die Erfindung einer neuen Wortart
Eine Lehrerin fragte die Kinder nach der Wortart „Adjektiv“ und nannte einige Beispiele, w i e Kinder sind: artig, fleißig, freundlich, ruhig …
Auf ihre suggestive Frage, was das also alles für eine Art von Wörtern seien, lautete die prompte Antwort eines kleinen Rabauken:“Liebewörter“.
Dies ist einerseits amüsant, andererseits aber ein Beispiel für verborgene Falschheit pädagogischer Moral.
3. November 2018
Führende Politiker kommen mir immer öfter vor wie Dirigenten, die zur Schallplatte/ CD dirigieren.
2. November 2018
Staatliche Lehrpläne mit ihrer „Bildung als Anpassung“: künstlich gezeugt und tot geboren.
1. November 2018
Worauf gründet Freundschaft? Auf Zeit Haben und Teilen. Worauf gründet Liebe? Da, wo eigentlich keine Zeit ist, Zeit zu e r s c h a f f e n.
31. Oktober 2018
In meinem sogenannten Alltag herrscht oft genug der ermüdende Funktionsmodus des vernünftigen Erwachsenen. Im Intuitionsmodus dagegen bewege ich mich zwar noch unbeholfen wie ein Kind, das gerade das Fahrradfahren lernt – jedoch unermüdlich.
30. Oktober 2018
Ich bestieg gemeinsam mit meinem Vater die Gondel des Riesenrades – eine gigantische fünfzig Meter in die Höhe aufragende Stahlkonstruktion, die den halben Rathausplatz einnahm, unmittelbar benachbart der mächtigen Kirche St. Marien. Deren Turm ragt noch einmal 14 m höher. Sich wiederholt in einer bequemen Gondel in diese Höhe heben zu lassen und wieder sanft hinabzuschweben, hoch über den Dächern der Stadt, über die fernen Höhenzüge der Haar, des Sauerlandes, des Eggegebirges, des Teutoburger Waldes im Süden und Osten, im Westen aber bis Hamm und Dortmund den Blick schweifen lassen zu können wie ein Albatros, der stundenlang ohne selbst einen Flügelschlag zu tun zu fliegen vermag – welch ein Ach! Und wie freute es mich, diese beglückende Grenzerfahrung gemeinsam mit meinen 92-jährigen Vater zu machen, den ich zu der Fahrt überredet hatte. Denn wo steht geschrieben, dass 92-Jährige nicht mehr Riesenrad fahren dürfen?
So hatte sich’s umgekehrt. Denn als ich ein vier-, fünfjähriger Junge gewesen war, hatte mein Vater m i c h mit ins Riesenrad genommen, und ich machte damals an seiner sicheren Seite meine ersten Erfahrungen mit dem schnellen Wechsel von Höhe und Tiefe – stets mit einem mulmigen Bauchgefühl.
Jenes Riesenrad aber, damals – dampfbetrieben, mit einer großen, mechanischen Orgel und einem hölzernen, mozartisch-uniformierten Dirigenten, vor dem ich stets ehrfurchtsvoll verharrte und ihm dabei zusah, wie er das Ensemble der anderen geschnitzten Figuren, die trommelnden Putten und dem Pfeifenwerk mit einem Stab in der Hand starr und zackig dirigierte – dieses teils noch hölzerne, barock anmutende Riesenrad mag ein Viertel der Größe des modernen Stahlkolosses gehabt haben. Für mich damals, den kleinen Jungen, aber war es gigantisch groß, und die ersten Fahrten bedeuteten hohe Mutproben und zugleich Grenzerfahrungen …
Aber: Was war, was ist das alles gegen das eigentliche Riesenrad und seine Fahrt: das Leben selbst?!
29. Oktober 2018
Wie verletzlich war von weitem – im Auto sitzend die „Breite Straße“ im Spätnachmittagsverkehr passierend – der Anblick der Menschlein hoch oben in einem Karussell, welches die Attraktion der Herbstkirmes ist. Kein gewöhnliches Kettenkarussell, sondern eines, das sich langsam um einen beleuchteten Mast herum in eine Höhe von ca. vierzig Meter hochschraubt, während die Menschen in den offenen Sesseln des Karussell in Schräglage am Himmel rotieren. Im Auto vernahm ich nicht die spitzen Schreie, die Ausrufe der Wagemutigen, sah nur die gegen die tiefstehende goldene Oktobersonne die Silhouetten und die hervorstehenden zappelnden Beinchen der zahlreichen Karusselfahrer.
In früheren Jahren stand an derselben Stelle immer ein gigantisches Riesenrad, dieses profanisierte Abbild des mittelalterlichen Schicksalsrades der Göttin Fortuna.
O Fortuna,
rasch wie Luna wechselhaft und wandelbar, ewig steigend
und sich neigend:
Fluch der Unrast immerdar ! Eitle Spiele,
keine Ziele,
also trügts den klaren Sinn; Not, Entbehren,
Macht und Ehren schwinden wie der Schnee dahin.
(Carmina Burana Nr.17, 13. Jh.)
Das Glücksrad reißt in raschem Lauf Fallende ins Dunkel,
einen trägts hinauf:
hell im Lichtgefunkel
thront der König in der Höh…
(Carmina Burana Nr. 16, 13. Jh.)
Nun also ein neuer Kitzel : das Erlebnis nicht nur des Höhenfluges, sondern auch der Fliehkraft. Die Menschen, die sich darauf einlassen – wohl gesichert durch metallene Bügel, die sie vor dem Herausfallen aus den an lediglich zwei dünnen Ketten angehängten Sitzen bewahren – finde ich wahrlich mutig. Liefern sie sich nicht der Technik und ihren Bedienern und Handlangern des Fahrgeschäftes aus, vertrauen der Festigkeit der Materialien, dem TÜV, der sein „Ja“ gab, der Aufmerksamkeit der Bediener dieser Vergnügungsmaschinerie?
Der Reiz – auch des Riesenradfahrens – liegt in der Verwandtschaft zum Fliegen und zu Blicken und Ausblicken, die sonst nur den Vögeln vergönnt sind. Auch die starr synchrone Bewegung der Sessel hat entfernte Verwandtschaft zum synchronen Flug eines Vogelschwarms, etwa von Tauben …
In hoher Geschwindigkeit drehten sich die Sessel und ihre Insassen um das Zentrum, die bunt blinkende Säule, und diese wurde mir für Momente ein Abbild der Weltenachse und unserer Sonne, um die ihre Planeten in musikalisch-proportionierten Abständen kreisen; unsichtbar jedoch die Ketten, die haltenden Kräfte, die unsere Erde, den Mond, die Venus usw. in ihren Umlaufbahnen und Abständen zueinander halten.
Und auch hier das Verletzliche, vom Weltall aus gesehen und oft beschrieben: unser blauer Planet, zart und sehr zerbrechlich, mit den Kontinenten, die gleich Embryonen in den Weltmeeren wie in Fruchtwasser schwimmen.
27. Oktober 2018
Eine halbe Wahrheit, die als g a n z e Wahrheit ihre schlechtere andere Hälfte – die Lüge – maskiert, wirkt wie die Metastasenbildung beim Krebs. So wurde nach 1945 „entnazifiziert“, aber viele ranghohe Nazis erhielten in der BRD wiederum leitende Posten, nach dem Motto: „Es sind zwar Schweinehunde, aber u n s e r e Schweinehunde.“ (Roosevelt sagte das einmal in anderem Zusammenhang). Die Metastasenbildung reicht bis zu den vertuschten Morden des „NSU“ …
Wenn jemand einen Meineid ablegt, so bestätigt er damit letztlich die Wahrheit. Wenn einer aber einen Eid auf die Lüge ablegt, so bestätigt er damit die Lüge als Wahrheit: ein geistig-moralisches Gefängnis und gängiges Mittel in Diktaturen.
Erinnerungen von Imre Kertész an „Buchenwald“. Kaum vorstellbar ist eine größere Wucht am Ende seiner Erinnerungen an seine KZ- Erlebnisse, als er auf die Frage eines Journalisten, der, eine große Story witternd, den Jüngling fragt, was er empfände. Lapidare Antwort: „Hass.“ Der Journalist hakt nach: „Hass auf wen, auf was?“ „Hass auf a l l e s!“
26. Oktober 2018
„Nicht die Schönheit entscheidet, wen du liebst, sondern die Liebe in Dir entscheidet, wen Du schön findest.“ (Von unbekannter Hand auf eine Schreibtischunterlage gekritzelt).
24. Oktober 2018
Beim Gang über die Herbstkirmes musste ich über ein humoriges Wortspiel, ein Vexierspiel zwischen dem Klang zweier Sprachen, schmunzeln. In großen „chinesischen“ Schriftzeichen las ich: LANG ZU – der Name einer chinesischen Imbissbude.
23. Oktober 2018
Fundstücke III
„Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben …“
„Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unsrer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK (Nationalsozialistischer Kraftfahrerkorps) und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs Monate geschliffen. ( … ) Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassen- und Standesdünkel da und dort noch vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre. Und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben. „
(Keine Verführung, kein doppelter Boden, keine falschen Versprechungen: Hitler redet hier Klartext in einer Rede an die deutsche Jugend in Reichenberg 1938)
Robin Hood und Tyll Eulenspiegel als Typus des Anarchen. Sie wissen, was sie wollen, im Gegensatz zum Typus, der sich auf nichts mehr zu beziehen vermag als auf die Verneinung, das Nichts, nach dem Motto: Es lebe der Tod! Humor aber ist immer ein gutes Zeichen: Mitten im tausendjährigen Reich, als der Hitlergruß in den Schulen unabwendbare Begrüßungsgeste war, donnerte der Deutschlehrer meines Vaters beim morgendlichen Betreten des Klassenzimmers seine Schüler mit einem strammen „HEITER!“ an, anstelle des pflichtigen „Heil Hitler!“, und die Klasse echote dasselbe in stiller Belustigung zurück. Die zum „deutschen Gruß“ aufzuckende flüchtige Geste des Lehrers glich dabei eher einem abfälligen Abwinken als der sattsam bekannten Cäsarengeste …
22. Oktober 2018
Der Urzeitvogel
Ein ungeheurer, aus dumpfer Tiefe hinauf gellender Aufschrei, gleich darauf ein einzelnes, dumpf blaffendes Aufstampfen, wieder eines und noch eines, allmählich schneller werdend. Zischender, dichter weißer Dampf, dann ein überhohes, schmerzhaftes Quietschen. Das aus einer unbekannten Tiefe ausgestoßene „Huff Huff“ wurde schwer und schwerer, wieder mischten sich über diesem rhythmischen Bass ineinander verschlungene, metallisch kreischende Töne.
Riesige Gräten kreisten zeitlupenartig oder ruckten vor und zurück, leuchtend rot gegen das Schwarz des mächtigen Rumpfes des Getüms, das nun laut fauchend und scharf zischenden Dampf austoßend zum Stillstand kam. Dieses Rot der Radspeichen und Kolben hatte etwas Überraschendes, so unerwartet wie die freigelegte Unter– oder Innenseite eines ansonsten unscheinbaren Schalentieres …
An „des „Teufels rußigen Bruder“ muss ich denken, wenn ich das Gesicht des Maschinisten wieder vor mir sehe, der meinem Vater gestattet hatte, mit mir – dem damals knapp Dreijährigen auf dem Arm – zu ihm hinauf in den Führerstand der Lokomotive zu klettern.
Die Dampflok – eine DB III der Baureihe 82 – hatte mit einem mit Gleisschotter beladenen Waggon den unbeschrankten Bahnübergang zwischen Poetenweg und Schillerstraße versperrt. Über diesen aber mussten wir hinüber in unseren direkt angrenzenden Garten. Auf mein Drängen hin hatte mein Vater den Lokomotivführer gefragt, ob wir hinaufkommen dürften, und der freundliche, rußgeschwärzte Mann mit der typischen Schirmmütze ergriff mich, hob mich hinauf, woraufhin mein Vater die eiserne Leiter zum Führerstand erklomm.
Der Führerstand, ein rätselhafter Raum mit vielerlei Hebeln, Rädern, Leitungen, Ventilen, Lämpchen und runden Armaturen mit Zeigern und Ziffern war doch ein Ehrfurcht einflößendes Heiligtum eines mächtigen, unbegreiflich- komplizierten Wesens aus Eisen, das mich nicht weniger faszinierte und magisch anzog wie die große Orgel auf der Empore in der Marienkirche.
Der Lokführer öffnete nun das Allerheiligste – die Feuerungsklappe – ich schrak zusammen, presste mich schutzsuchend an meinen Vater – um mich einen Augenblick später, trotz aller Furcht, wieder den aus der Tiefe lodernden Flammen und dem heiß heranwehenden Feueratem zuzuwenden. Ein Urzeitfeuer, ein Inferno, doch gebändigt von dem rußigen, routinierten Mann, der offensichtlich amüsiert und auch gerührt war von dem sich angstvoll an seinen Vater anschmiegenden und doch mit weit aufgerissenen Augen staunenden Kinde, hin -und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, Nähe und schützender Distanz.
Er schaufelte Kohlen ins Feuerloch, schlug die Klappe wieder zu, verriegelte sie, legte einen Hebel um. Darauf drehte er am Griff einer kleinen, blankgewetzten Kurbel, und die Lok setzte sich langsam wieder mit ihrem schweren „Huff Huff“ in Bewegung, fuhr vielleicht dreißig, vierzig Meter vorwärts, danach im Schneckentempo wieder zurück …
Mein Vater stieg zuerst wieder hinab, ich wurde von starken, schwarzen, ölig riechenden Armen behutsam wieder hinuntergereicht, und nun ging es in den Garten.
Doch war ich nicht nur erfüllt von dieser Begegnung, sondern sie hatte sich mir förmlich eingebrannt. Alle Erlebnisse mit Lokomotiven in meiner weiteren Kindheit und im Leben trugen und tragen seither den Stempel dieses frühen Erlebnisses: die Holzeisenbahn, Bilderbücher, das Hörspiel von der führerlosen Lok 1414, die Lokomotive Emma mit Lukas dem Lokomotivführer und Jim Knopf, die Dampflok der späteren elektrischen Eisenbahn von uns Geschwistern … : All dies belebt und beseelt sich mir stets von neuem mit der Maschinenmusik von damals – dem Quietschen, Kreischen, Zischen, dem stampfenden Rhythmus und den Gerüchen von Kohle, Metall, Dampf und Öl, dem Gefühl der lodernden Gluthitze der Feuerungkammer unter dem großen Kessel und dem Bild des freundlichen Maschinisten, diesem Beherrscher und Bändiger der mächtigen Urkräfte von Feuer und Wasser.
Und höre ich heute, ein oder zwei Mal im Jahr, die große Lokomotive der Nostalgieeisenbahn, die auf ihrer Sonderfahrt meinen Wohnort durchschnaubt und die eiserne Brücke über die Havel überquert, so beginnt mein Herz zu klopfen, wie damals, am 9. Oktober 1960 am Bahnübergang des Poetenweges. Ich springe auf, lausche, suche etwas von der Lok zu erhaschen. Doch meist bin ich zu spät, der Zug ist längst vorübergeeilt und meinen Blicken entzogen, nur die ungeheuren, dampfenden Atemwolken stehen noch dort, wo die Gleise verlaufen, und lösen sich schnell wieder in Luft auf.
Doch einmal, im Winter vor zwei Jahren, während eines abendliches Spazierganges an der Uferpromenade des schmalen Havelgemündes, hatte ich das Glück einer Begegnung. Ich hörte den Pfiff der Lokomotive aus der Ferne, ein schnelles rhythmisches Rattern und Fluffen kam näher. Die filigrane Silhouette eines ruhenden Graureihers auf dem höchsten Geländer der Brücke überm Gemünde, verschmolzen mit deren mächtiger Eisenkonstruktion, strich mit einem unwilligen, heiseren Schrei ab. Er glitt über der Mitte des Gemündes in meine Richtung. Indem der Zug die Brücke erreicht hatte, schwoll das metallische Rauschen über dem Resonanzraum des Gewässers darunter überlaut an. Die schnaufende Lokomotive mit ihren Waggons eilte mit einem langgezogenen Pfiff dahin – ein kunstvoller, bewegter Scherenschnitt, herausziseliert aus dem symetrischen eisernen Brückenbau und dem dampfenden Ungetüm, die sich scharf gegen das Abendrot, die darüber sich wölbende leuchtende Himmelskuppel und deren Spiegelbild im See abzeichneten.
Der aufgestörte Graureiher aber hatte sich unweit von mir am Ufer niedergelassen, mich scharf fixierend, als frage er: Wer bist Du? … – Er, dieser ferne Nachfahre des Urzeitvogels Archaeopteryx, gleich einer verkörperten Erinnerung an unwirklich fern zurückliegende Urzeiten der Erde, hatte sich mit seinem Schrei von allem Zeitlichen abgelöst, und mit jedem neuerlichen Schlag seiner Schwingen schien er sich tiefer ins Gegenteil der Zeit hinein zu befreien, dorthin, wo urferne Vergangenheiten und Gegenwart sich im Augenblick verbinden wie Feuer und Wasser …
21.Oktober 2018
Fundstücke II
„Der ungesicherte Hintergrund der ganzen Kulturdebatte ist das Fehlen eines einheitlichen und verbindlichen Bildungsideals; das ist in allen Lagen und in allen Ebenen des öffentlichen Unterrichtswesens völlig zersetzt … Deutschland, das Land der großen Binnenwanderungen, darf nicht die Masse von verschiedenen Schularten, die nicht aufeinander eingestimmt sind, nebeneinander haben. Die Gelenke müssen passen, wenn einer von Preußen nach Bayern und von Schwaben nach Sachsen kommt.“
(Der damalige Reichstagsabgeordnete der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei Theodor Heuss am 18.März 1927).
Wieviel weiter sind wir heute, knapp hundert Jahre später?
Fundstücke I
„Die Türkei kommt dem Abendland näher. Die türkische Nationalversammlung in Ankara nimmt die neue, nach schweizerischem Vorbild gestaltete Zivilprozessordnung an. Damit ist ein weiterer Schritt getan in der Politik zur Annäherung an das Abendland, die der türkische Staatspräsident Kemal Pascha (Kemal Atatürk) forciert, vollzogen. Kemal Pascha hat seit der Ausrufung der türkischen Republik die Herauslösung der neugeschaffenen türkischen Nation aus der islamischen Welt, eine Säkularisierung und Europäisierung des Landes propagiert. …(Aufhebung der geistlichen Koranschulen und der islamischen Gerichte, der Kampf für die Einführung europäischer Kleidung und Kopfbedeckung, die Einführung der christlichen Zeitrechnung …). Nun wird auch die Prozessordnung dem neuen Zivilrecht angepasst.“
Zu lesen in der „Berliner Illustrierten Zeitung“, Ausgabe vom 19. Juni 1927.
Dazu Goethes Stimme aus dem „Off“ : „Wer nicht vorwärts geht, geht rückwärts.“
14. Oktober 2018
„Tag des Cellos“ in der Berliner Philharmonie:
Campanula in Violamensur Campanula
„Himmel“
(gespielt von Stefanie John auf einer Campanula, einem dem Cello verwandten Instrument mit Resonanzsaiten)
Du baust die Brücke in die Stille,
in jene Räume, wo die Träume weben,
dort, wo sich Lauschen, Zeit und Wille
ganz sich wagen hinzugeben,
schweigend, deinem Spiel und Tönen.
Ich gehe Ton um Ton mit Dir
dorthin, wo sich Zeit und Ewigkeit versöhnen.
Und kehr, verwandelt so, zurück ins Hier.
12. Oktober 2018
Der wohl am häufigsten geäußerte Satz nach “ der Wende“, da sich die Möglichkeit auftat, seine Stasi-Akte einzusehen: „Unmöglich … Das hätte ich von X. nie gedacht.“ So vielleicht sinngemäß.
Zersetzung eines Menschen und seiner auf Vertrauen ruhenden Beziehungen zu sich selbst und anderen, wie es z.B. in der Serie „Weissensee“ nachgestellt ist.
Kein schlimmerer Zusammenbruch als der Einsturz des Vertrauens.
11. Oktober 2018
Orion, das markante Wintersternbild vor Sonnenaufgang im Osten: die Reinheit der Unendlichkeit „wehte“ mich an. Wären wir Menschen sinnesbegabt für elektromagnetische Strahlen und Wellen, so würden uns die Sterne und ihre Bilder wohl verborgen bleiben, so dicht eingesponnen scheint mir die Erde in diese Strahlungen unserer elektrischen und magnetischen Netzwerke.
Wie aber wird der Falter – unsere Erde – dann aussehen, der aus dieser elektromagnetischen Verpuppung, diesem künstlichen Kokon dereinst ausbricht und daraus ausschlüpfen wird? Und: Wie wird das sein? Welche Kämpfe und Stürme werden damit einhergehen wenn die virtuelle Welt untergehen wird?
8. Oktober 2018
Im Alltagsstau
Sollen, Müssen, Termine, Abwasch, Müll und Kompost entsorgen, Anrufe, anrufen, Banküberweisungen, Post lesen und beantworten, Handwerker bestellen, Benzin tanken, Einkaufen, Auspacken, Kochen, Spülmaschine ausräumen und befüllen: der Alltagsstau, in dem ich auf meinen Weg gegangen werde. Innerer Stillstand.
So verließ ich diesen Stau, ließ alles liegen und ging durch den Wald am Seeufer entlang, wo die untergehende Sonne sich spiegelte und am Himmel ein stilles aber gewaltiges Feuerwerk erschien.
Goethe: Wer nicht vorwärts geht, geht rückwärts finde ich trotzdem (trotz wem? ) zu apodiktisch. Wie oft floh gerade er aus Weimar: nach Italien, nach Jena, nach Dornburg, entfloh dem familiären Treiben in seinem Haus, entfloh seiner Frau, dem Hof, entfloh in seine vielen Verliebtheiten, Leidenschaften (auch die des Sammelns), um sich in der Fähigkeit zu lieben erneut und erneuert zu finden …
Welcher deutschsprachige Schriftsteller aber hat wohl im Geiste Goethes das Hohelied der Liebe als Wachstums- und Erneuerungskraft reiner, abgeklärter und zeitloser gesungen als Adalbert Stifter in seinem „Nachsommer“?
5., 6. und 7. Oktober 2018
Was hat der seit Urzeiten bis heute wirkende und wirksame Schamanismus mit moderner Technik zu tun? Die Verbindung sind Krafttiere bzw. deren Symbole, z.B.: Kranich (Lufthansa), Pferd (PS), Esel (Fahrrad), Maus (Computer), Adler (Schreibmaschine), Schwalbe und Vespa (Motorrad), Ente und Käfer (Kultautos der 60er und 70er Jahre), Falck (Rettungsdienst in Schweden), Tümmler (so hieß das Segelboot Albert Einsteins, mit dem er die Seen rund um sein Sommerhaus in Caputh befuhr) …
3. Oktober 2018
VOM WESTEN NACH OSTEN – eine „Begegnung“ mit Goethe
29./30. September 2018
Das hörende und sehende Herz
Magdalena Kožená, der Dirigent Václav Luks und das „Collegium 1704“ in Potsdam
(Lesezeit 5′)
Ich tappte im Dunkeln, tastete mit vorgestreckten Armen und Fingern wie mit Fühlern, tastete vorsichtig Schritt für Schritt, mit meinen Füßen den Boden ab, lauschte angestrengt, um irgendetwas von dem Unbekannten, was da in der Dunkelheit an mich herankam, zu begreifen, zu verstehen … und saß doch zugleich wie festgebannt in meinem Sitz. Mein Verstand begann heftig zu arbeiten, er schnitt meinen Kopf förmlich vom Rest meines Körpers ab, der mehr und mehr zum Anhängsel zu verkümmern schien. Verstand denn irgendjemand von den vielen anderen Menschen im Saal etwas von dem, was die Sängerin auf der Bühne sang? Die Glücklichen, die ihr Programmheft mit Texten und Übersetzungen vor Augen hatten! Denn sie konnten verstehen, was die berühmte Primadonna da, teils händeringend und mit tragischer Miene, teils schelmisch lächelnd oder durch Koloraturen rasend und bebend, zum Ausdruck brachte … .
Ein Kitzeln im Hals war das erste Zeichen, das mein Körper mit seinen Etagen unterhalb meines Hirns setzte. Einzelne Worte, Seufzer und melodische Aufschreie – „Se la morte“, „Ombre, cure, suspetti!“ oder „Cosi, cosi mi tratti?“ verstand ich erleichtert. Aber wie ein ganzes Programm durchstehen, wenn man, wenn überhaupt, nur einzelne Worte vernimmt aber nichts versteht und erkennt aus der Flut von Worten und Tönen? Ich begann mich mehr und mehr wie ein Statist zu fühlen. Dort die Musiker, die Sängerin, hier ich – getrennt von mir selbst, als würde ich angestrengt in ein Schaufenster starren, in dem ich immer nur mein eigenes Spiegelbild sähe.
Beginnt nicht unser Körper sich zu wehren, wo der Verstand, die Verengung und Erstarrung der eigenen Wahrnehmung, die damit aufhört, Wahrnehmung zu sein, derartig übermächtig wird?
In diesem Moment begann er, sich eines Hustenteufelchens als Helfer zu bedienen, welches in meinem Hals und in meinen Bronchien – ein, zwei Etagen tiefer also als mein Hirn – mit einem spitzen Gegenstand meinen Schlund reizte, kitzelte und piekste. Jeder tiefere Atemzug drohte zu einem katastrophalen Ausbruch zu führen. Es hieß tapfer sein, Luft anhalten oder zumindest sehr flach zu atmen, was den Hustenteufel aber nicht beeindruckte. Er traktierte mich derart, dass mir das krampfhafte Festhalten des Atems die Tränen in die Augen trieb. Merkten die neben und hinter mir Sitzenden etwas von meinem bevorstehenden Erstickungstod, dem ich nur noch durch eine beherzte Flucht würde entgehen können? Aber warum stand ich nicht einfach auf, ließ mich gehen und flüchtete? Der Ausgang war nicht weit entfernt, ein Notausgang im wörtlichen Sinne, der Gang dorthin war frei, aber doch den Blicken einer Hundertschaft von Menschen ausgesetzt. Wollte ich mich den vermeintlich verächtlichen Blicken und Gedanken über diesen hustenden Banausen, als den ich mich nun mit einem inneren „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“ fühlte und der sich nicht in den Griff bekam, nicht aussetzen?
Noch spielte ich den Helden, aber in Wahrheit sehnte ich nichts mehr herbei als das rettende Ufer, den Schlussakkord, dort, wo Applaus und Jubel aufbranden und meinen Hustenanfall übertönt würde. Jedoch: das konnte dauern, Land war keineswegs in Sicht. Wann endlich würde sie fertig sein, diese schluchzende, furiose Sängerin und der elektrisiert und unter Hochspannung insistierend fuchtelnde Dirigent …
Mittlerweile waren auch die unteren Stockwerke meiner Körperfestung von mehreren Hustenteufeln okkupiert, ich ruckte hin und her, legte eine Hand auf meine gepresste Brust. Ruhe bewahren, gaaaanz ruhig bleiben …Dort irgendwo musste sich doch mein Herz befinden, das ich aber nicht fühlte, denn es war furchtsam zusammengeschnurzelt wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen ist. Das Bild hinkt jedoch gewaltig, denn: hier konnte ja eben nichts entweichen …
Hätte ich nur ein Programmheft in der Hand gehabt, etwas für meine Augen zum Lesen, zum Begreifen und etwas zum Festhalten für meinen Verstand. Aber ich tappe im Dunkeln –„Cosi, cosi mi tratti …? – fühle Erbitterung – oder vielmehr: ich huste den Veranstaltern etwas, die nicht in der Lage sind, Programmhefte für einen Abend mit „Stars international“ in ausreichender Anzahl zu drucken. Sie und niemand sonst sind Schuld an meinem Hustenanfall und daran, dass diese Musik zu meinem Gegner geworden ist.
Ich blicke gequält auf die Streicher. Für Momente erkenne ich mit einem Anflug von Erstaunen, was sich im Innern des Schaufensters abspielt, in dem ich mich bis dahin nur selbst gespiegelt gesehen hatte. Was die Finger und Arme der Musiker an Bogenstrichen und Griffen da vollführen – synchron wie ein Schwarm Stare am Abendhimmel – ergibt Klanggesten – Wirbel, Saltos, Sprünge, Kaskaden und Lachsalven, Tränenflüsse oder wehe Seufzer – erschafft eine seidig-glänzende Hülle aus unfassbar reinen Harmonien und leuchtenden Farben, denen Logik und tanzende Verbindung, genauso aber auch Brüche und Überraschungen innewohnen – ein wild entschlossenes, akrobatisches Drängen, das um die Gestalt der Sängerin herumwirbelt, dann wieder sich an ihre schlanke, in ein blaues Gewand gehüllte Gestalt anschmiegt, sie streichelt, ihr liebkosend durch die blonden Haare streicht, sie beschirmt oder den Himmel über ihr öffnet, zu dem sie ihre Augen aufschlägt …
Immer noch verstehe ich kein Wort von dem, was sie singt, aber jetzt – als hätte der Dirigent Magnesium und Phosphor in die Glut geworfen – sprüht eine feurige Lohe auf, fällt wieder zusammen, eine Flamme züngelt, wird wiederum knisternd größer, schlägt hoch hinauf mit lodernder Helle und Gluthitze …
Doch so jäh, wie die Flamme aufschoss, so plötzlich ist auch wieder geschrumpft – nur noch ein in sich zusammengefallenes Flämmchen jetzt, ängstlich flackern, bebend, aufzuckend, nahe am Verlöschen, flüsternd … „Che dolce foco in petto oltre I‘ usato io sento …“
Ich höre ein lautes Klopfen, ein schlagendes Herz …Tod der Liebe, Liebe des Todes, des Sterbens; eine Geliebte, die ich zu meinem größten Erstaunen plötzlich hoch oben an der Decke des Saales schweben sehe wie in einem Gemälde Chagalls. Sie schaut entrückt auf die rasenden Leidenschaften, das tiefe, in sich versunkene Trauern und Lacrimosa, das Lebenstableau ihres eigenen Liebens, Hassens, eifersüchtigen Verlangens, Sehnens und Verlierens, das durch ihren Körper und ihre Stimme hindurch weht wie ein Sturm ..
Arianna, Maria dolorosa, Angelica, Dido, Ero … , all diese leidenschaftlichen, legendären Frauengestalten mit ihren Kostümen, Masken, Staffagen, Marmorbildern und Gemälden stoßen diese Sängerin, der Dirigent und sein Orchester um, zerbrechen, zerwühlen, zerreißen sie, um sie auf Neue in Fleisch und Blut wieder zu gebären: von Augenblick zu Augenblick, von Ton zu Ton, von Akkord zu Akkord, von Rezitativ zu Arie und von Arie zu Rezitativ – in einer Musik, in der Leben und Tod, Licht und Schatten, Frühlingssehnsucht, Sommergluten, Herbststürmen und Winterstarre um die Menschenseele ringen und kämpfen …
Meine Ohren beginnen, den Raum weiter und weiter zu öffnen, den die Klänge und Farben der Musik geben und nehmen – ihre Zäsuren, die Abgründe der Stille zwischen dem Windzügen des Atmens, den gezackten Schlägen, Stichen und den zuschnappenden Atemgeräuschen des Dirigenten, auf die die Streicher mit scharfen Attacken antworten … Anläufe und Bremsungen, Anläufe, Absprünge, ein wirbelnder Flug oder ein selig reigendes Schweben, das aus den vereinten Bogenbewegungen und dem eilenden, unfassbar leichten Tanz der Fingerkuppen auf den magischen Punkten der schwarzen Griffbretter der Violinen entspringt …
Spätestens hier war es, dass ich des synchronen Übersetzers oder Souffleurs in mir gewahr wurde. Schwerlich aber hätte ich ihn bemerkt, wenn ich auf die gedruckten Texte fixiert gewesen wäre, denn der Blinde – der, dem die Augen verbunden sind, ist gezwungen, lauschen zu lernen und mit noch einem anderen Organ als dem Ohr hinzuhören, denn wer anderes wohl als mein Herz hätte dieser Übersetzer und Souffleur sein können, der mir Verstandesblinden zur Hilfe gekommen war … Ich hatte ein anderes Augenlicht bekommen: aus dem „Écoute avec le coeur“ war nach und nach das „Voir avec le coeur“ geworden.
29./30. September 2018
Magdalena Kozena,Vaclav Luks und das Collegium 1704: Das hörende und sehende Herz
(Zum Lesen anklicken, Lesedauer ca. 5′)
28. September 2018
Jeder Dom, jede Kathedrale, jede Kirche gleicht einem Kristall, in dem sich der Klang des Gotteswortes bricht. Aber: in jedem Raum auf andere Art. Und in jedem Herzen wiederum anders.
Die Werke Josquins, Palestrinas, Monteverdis, Praetorius‘, Schütz‘, Beethovens, Mozarts, Bruckners, Brahms, Pärts und vielen ungenannten anderen … : Kristalle, in denen sich das Wort Gottes im Klang bricht. Johann Sebastian Bach: der Diamant unter all diesen.
27. September 2018
23. September 2018
Aus dem Innenleben einer Zeitungsmeldung
(Zum Lesen anklicken; Lesezeit ca. 10′)
22. September 2018
Beim Betreten des Supermarktes sah ich vor mir eine Frau mittleren Alters mit ihrem … Partner ? Irgendetwas schien aber nicht zu stimmen. War es ihr erwachsener Sohn? Oder doch noch ein Kind? Irritierte mich in den wenigen Sekunden, die ich die Beiden vor mir hatte, seine Kleinwüchsigkeit? Die schon gelichteten Haare seines Hinterkopfes? Der Kleine im Körper eines Erwachsenen aber begann nun auf einmal auf einer Mundharmonika zu spielen, unbekümmert, frei, ein Lied aus dem Anderswo, ohne Worte. Da wusste ich: er ist dieser Welt, ihren ausgesprochenen und unausgesprochenen Vorschriften, Gesetzen und Erwartungen entrückt, ein Nicht- Behinderter, Glücklicher. Und ich spürte die Liebe seiner Mutter, die ihn neben sich mit seinem Mundharmonikaglück einfach sein ließ.
Wieviel Liebe aber gab er ihr und uns anderen mit seinem unerwarteten Spiel gleichsam zurück, an einem Ort, der sonst durch vergiftete Konservenmuzak verseucht ist und Vieles ansaugt und Raum für Vieles gibt, nur nicht für Musik „aus dem Herzen“. Liebe war das Eine, was ich spürte – Sehnsucht aber das Andere: die Sehnsucht des „Eseleins“ aus dem gleichnamigen Grimmschen Märchen.
20. September 2018
„Was ist Gott? Er ist Länge, Breite, Höhe, Tiefe.“ (Bernhard von Clairvaux, 12. Jh.)
Man muss selbst einmal etwas Funktionales Stein auf Stein gemauert haben, um die Leistungen der Kathedralenbauer mit ganz neuen Augen zu sehen und staunend neu zu erahnen, was und wie sie in Jahren aufwachsen ließen.
Jede mittelalterlichen Kirche aus Stein gleicht einer Fuge. Konkret: Ihr Thema, der „Dux“, ist der Grundriss des ersten Pfeilers. Von diesem ausgehend leiten sich die räumlichen Dimensionen, Proportionen, die Wölbungen des Gesamtbaus ab.
Der Grundpfeiler also – in der Gotik oft ein Bündelpfeiler – ist die Matrix des Kirchenbaus, mit den harmonikalen Proportionen 1:1, 1:2 (Oktave), 2:3 usw.
Die Zisterzienser haben in dieser Hinsicht die absolute Meisterschaft erreicht.
18. September 2018
Aus der Vogelperspektive
Das andere, jenseitige Ufer war schon längere Zeit in Sichtweite. Das Schiff hielt seinen Kurs parallel zur Küste; noch segelte es nicht in Richtung Ufer, um dort anzulanden. Eine kleine Bewegung des Steuers würde genügen, damit das Schiff seinen parallelen Kurs verließe und die Linie des Jenseits schneiden würde: der Tod – und das neue Leben, danach, im neuen Land.
Der Dirigent
Seine Arme bewegten sich im Winde des Orchesterklangs: Er dirigierte gleich einer Windmühle.
17. September 2018
Über Bach schreiben? – Ist nicht meine Berufung. An Bach schreiben? – Kommt zu spät. Mich für Bach beim Leipziger Rat einsetzen? Braucht es heute nicht mehr, da sie ihn weitaus besser behandeln als damals, ja, ihn lieben. Aber für m i c h muss ich an ihn schreiben: Lieber Bach, du machst mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen!
„Nie wieder Krieg“! Auch Sentenzen oder Schlagworte können kranken, in diesem Falle eine chronische Erkrankung – an Verneinung.
„Na, alles im Griff?“ Was meinte der Frager? Würgegriff? Haltegriff? Zugriff? Angriff? Hilfestellungsgriff? Eingriff? Begriff?
Lichtqualitäten: Das blaue Licht der virtuellen Welt oder das blaue Licht der unsterblichen Seele?
16.September 2018
Palimpsest
Beim Schlendern durch die einstige Ackerbürgerstadt, die Orte meiner Kindheit und Jugend: ein Palimpsest: Verstorbene, die meinen Weg über den belebten Markt kreuzen; Selbstbegegnungen mit dem kleinen Jungen von damals im alten Park unter der riesigen Blutbuche, welcher voller Verstecke und geheimer Plätze ist, die aber keiner derer, die mir begegnen, sehen kann.
Ich schlendere durch Geschichten, Geräusche und Gerüche, sehe die alte Schmiede mit der großen, rauchenden Esse – jetzt ein schickes Restaurant – rieche den Geruch von rotblühendem Eisen, von verbranntem Horn der Pferdehufe, denen der bärbeißige Schmied Bernhard Asshauer neue Hufeisen angepasst, höre das Schnauben des Gauls, das rhythmische Klingen seines Schmiedehammers, in der Ferne jetzt das tiefe Mittagsgeläute von Sankt Marien… ist es das Läuten vor 50 Jahren oder ist das Geläute im Hier und Jetzt? Die Glocke holt mich zurück aus der Traumstadt, deren mittelalterliche Lineatur der Straßen und Gassen und das Relief der Gebäude von der neuen Zeit überwachsen, überbaut, überwuchert sind. Diese Traumbilder aber spiegelten mir eine intensivere Wirklichkeit als die realen Bilder, an denen meine Augen schnell ermüden.
15. September 2018
Meine Muttersprache: mein Eigenheim. Später gelernte Fremdsprachen: Zweit– oder Mietwohnungen oder gar Ferienhäuser.
14. September 2018
Manches Kind gleicht einem kostbaren Streichinstrument: rein gestimmt, leuchtend, mit einer reichen Vergangenheit, die sich mir in seiner hochgradigen Schwingungsfähigkeit, seinem Erstaunen und seiner Neugier verrät… .Mit solchen Kindern zu spielen, zu lernen macht glücklich.
13. September 2018
Der neue Rattenfänger
Juchheisa! und ich führ den Zug
Hopp über Feld und Graben.
Des alten Plunders ist genug,
Wir wollen neuen haben.
Was! wir gering? Ihr vornehm, reich?
Planierend schwirrt die Schere,
Seid Lumps wie wir, so sind wir gleich,
Hübsch breit wird die Misere!
Das alte Lied, das spiel ich neu,
Da tanzen alle Leute,
Das ist die Vaterländerei,
O Herr, mach uns gescheute!
(Gedichtet von einem meiner Lieblingsdichter, der von 1788 bis 1857 lebte; einer der wenigen, die sich in ihrer Zeit in Deutschland nicht von Nationalismus und aufkeimendem Antisemitismus anstecken ließen …).
12. September 2018
Mit der immer mehr zunehmenden nationalistisch- rassistischen Auslegung der damals, in der 2. Hälfte des 19 Jahrhunderts noch relativ jungen darwin’schen Evolutionslehre auch durch die deutsche Professorenschaft – Joachim Bauer hat dies akribisch recherchiert – verhielt es sich ähnlich, als würde man in die glimmende, schwelende Glut der überall in Europa erstarkenden Nationalismen hineinblasen. Aus der nationalen Gesinnung schlug nun die Flamme des Nationalistischen, die weiter genährt wurde durch den Antisemitismus.
Rassenreinheit, „Kampf ums Dasein“ waren der ideologische, durch die damalige Wissenschaft gerechtfertigte Boden, auf welchem die Ideen zu Taten reiften, vermeintlich Unwertere, Schwächere durch das „Recht des Stärkeren“ systematisch zu verdrängen und zu vernichten.
Der Dichter Franz Werfel ist durch seine Darstellung des Überlebenskampfes der Armenier in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh ...“ für dieses geschundene Volk, an dem im 20. Jahrhundert der erste Völkermord als Exempel statuiert wurde, bis heute hochverehrt.
Für Hitler und Co. war der Völkermord an den Armeniern ab 1915 Vorbild für die Ausrottung der europäischen Juden. Rätselhaft erscheint immer wieder, bis auf den heutigen Tag, die Verknüpfung von intellektueller Klarheit Vorausplanung und effizienter Durchführung einerseits mit der enthemmten Grausamkeit: das Rätsel des Bösen und d e r Bösen:
.. Taalat und Enver Pasha, Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot; der einzelkämpferische Norweger Breivik im Jahre 2011, der seine Taten auf einem eintausenfünfhundertseitigen Pamphlet jahrelang ideologisch vorbereitete: Oberteufel mit ihren zahllosen Nebenteufeln, untere Chargen, Schlächtern, Folterern, Handlangern, Gekauften und Belohnten, Verrätern, Nutznießern, den gemeinen Dieben …
Taalat Pasha und Enver Pasha: die obersten Chefideologen und hauptverantwortlichen Befehlsgeber der Vernichtungsaktionen gegen das armenische Volk:
Ersterer wird als gedrungen-aufgedunsene Erscheinung beschrieben, mit einer Ausstrahlung als der „machtvollsten zwischen Berlin und der Hölle“.
Enver Pasha lebte jahrelang unbehelligt im Exil u.a. im Klein-Glienicker/ Babelsberger Villenviertel, Freund und als Gast des damaligen Direktors des Berliner Völkerkundemuseums. In Klein-Glienicke wurde eine 1945 teilweise zerstörte Brücke zu Ehren Enver Pashas benannt, die diesen Namen bis heute trägt. Ihr Wiederaufbau wurde diskutiert.
11. September 2018
Auf des Sommers Waagschale
Stille Fülle,
Morgenglanz und Kühle,
Diamantener Tau am Thun.
Sonnenflecken leuchtend ruhn.
In den Zweigen wispern Meisen.
Winde flüstern ein Ade’
Ins goldene Ohr der reifen Rispen.
Raschelnd fällt ein roter Apfel nieder …
Langsam neigend – steigend wieder
Wiegt der Sommer sich.
9. September 2018
Eine Großmutter erzählt ihrer kleinen Enkelin Märchen, lässt jedoch, um das Kind vermeintlich zu schonen, die Grausamkeiten aus. Nach und nach wird die gar so freundliche, süße Omi dem Kind immer unheimlicher.
Die zehnjährige Theresa erzählte mir: „Wir haben ausgelost, wer beim Theaterstück welche Rolle spielen darf. X. spielt die Taube und ich bin die böse Stiefmutter.“
Dann strahlte sie mich an und sagte mit festem Blick: „Ich liebe es, ein bisschen böse zu sein!“
Was wird später im Leben aus denen, die als Kinder nie „böse“ sein dürfen oder durften, die das Böse nie spielen durften? Oder: denen das kindliche „Böse-sein“ nicht verziehen wurde?
7. September 2018
Es gab einmal ein „Age of Enlightment“. Wir zehren noch heute – mehr denn je – u.a. auch von der Musik, die damals entstand: Z.B. Im vergangenen Jahrhundert Bernsteins zweite Sinfonie „The age of anxiety“. Mittlerweile sind wir längst im digitalen Zeitalter – dem der Spaltung in O/1, dem „Age of hate-or-love“ – angekommen. Gab es das nicht schon einmal in der damals noch fast ausschließlich analogen Welt?
Hinter den Zwingern und Gitterstäben der „virtual reality“, der „(un-)social media“ und ihrer Kommentarfunktionen geifern und wüten Hass-und Hetzkommentare, eine Meute mit Menschenmündern, ihrer Maulkörbe entledigt, zum Teil in sich selbst verbissen.
Vielleicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Gitterstäbe dem Druck nachgeben oder die Zwinger vorsätzlich entriegelt werden, und diese Meute loshetzt, ob organisiert oder unorganisiert, und ihren Worten Taten folgen lässt …
„Ohnmächtige Wut“: sie sucht die Ohnmacht zu überwinden, die verlorene oder nie besessene Autonomie zurückzugewinnen durch Gewalt. Wo das nicht möglich ist, wächst und staut sich der Hass, wie das Magma im Untergrund eines Vulkans.
6. September 2018
Wahrheitsbesetzer oder Wahrheitsbesitzer?
„Auf YouTube“ ein Wahrheitsverkünder: Möglicherweise ein ehemaliger Ringkämpfer, einer, der sich irgendwie selbst massiv im Wege zu stehen scheint, undurchlässig wirkend. Einer, der anstelle zu ringen nun spirituell wirken möchte. Ein Ringkämpfer nunmehr auf der Ebene der Worte, Gedanken und Ideen, schlagfertig.
„Mephistophelia“ – so nenne ich sie für mich: die geniale, sprachlich alles überragende Kabarettistin mit dem Wiener Dialekt. Wäre Mephisto wohl eine weibliche Figur geworden, wenn Goethe sie gekannt hätte?
Meine Frage aber an sie bei all ihrer zersetzenden, furiosen sprachlichen Genialität aber ist: Kennt sie, hat sie Liebe? Ihre Antwort: Schweigen.
3. September 2018
Unterm Himmel
Ein lauer Spätsommerabend. Ich sitze am Feuer im Garten, den Blick nach oben auf den klaren Sternenhimmel gerichtet. Das Rauschen eines nahenden Flugzeugs vom Flughafen Berlin-Schönefeld schwillt an. Jetzt sehe ich die blinkenden Positionslichter, zwei-, dreitausend Meter über mir. Ich erahne die Kreuzform der Maschine. Nach wenigen Sekunden ist sie meinen Augen entzogen; ich lausche dem Flugzeug nach, welches das Sternbild des Bären gekreuzt hat, gleich einem irrlichtelierenden Sternbild – nennen wir’s „Kreuz“ oder „Schwert“ … . Zweihundert Menschenschicksale, auf engstem Raum zusammengeballt, überkreuzen, „verknoten“ sich dort oben für die Dauer des Fluges, um sich nach geglückter Landung in Barcelona, in London oder Stockholm wieder zu lösen. Wohl die meisten derer, die jetzt dort oben ihre Gurte abgeschnallt haben und sich entspannt zurücklehnen, umarmten, küssten jemanden zum Abschied oder drückten eine Hand, und werden wohlmöglich nach der Landung am Ziel von jemandem erwartet. Herzen schlagen erwartungsvoll, Augen und lächelnde Antlitze leuchten auf, Körper schmiegen sich bei der Begrüßung glücklich aneinander, Hände werden gedrückt und Tränen abgewischt: die Technik hat uns vom unmittelbaren Leben und Begegnen nicht nur abstrahiert und zu Partikeln in ihren Maschinen degradiert, die wie anonyme Kometen oder Satelliten am Himmel dahineilen. Sie hat unser aller Leben intensiviert, unfassbar beschleunigt im Vergleich zur Pferde- und Postkutschenzeit.
Ich lausche dem Flugzeug nach: sein Klang ist auch Ausdruck der Liebe zum Leben und zum Lebendig- und Verbundensein.
Und in den nächtlichen Träumen nach der Ankunft am Ziel fliegen die Seelen derer, die ihr Leben und ihr Schicksal der Maschine und den Maschinisten anvertrauten, ihren physischen Leibern hinterher, holen sie, mehr oder weniger schnell, ein, vereinigen sich wieder; Stress und Jetlag klingen ab.
Dann erst werden sie ganz und wirklich angekommen sein.
23. August 2018
Auf dem Fährschiff
Das kaum einjährige Kind, von seiner Mutter an den hochgereckten Ärmchen gehalten wie eine Marionette an zwei dicken Fäden, verfolgte mit strampelnden Beinchen und jauchzend sein Zwillingsgeschwisterchen, das vor ihm, erstaunlich schnell und behende, auf allen Vieren auf dem Teppich des Ganges vorauskrabbelte … da traf mich wieder einmal einer dieser langen, hingebungsvollen, tief verwunderten Kinderblicke, auf die es wohl nur eine einzige mögliche Antwort gibt; denn das Leben selbst scheint dich aus tiefster Verwunderung anzublicken, und das Leben selbst in mir antwortete … mit meinem Lächeln.
Was ist uns geschehen, dass wir die Fähigkeit verloren zu haben scheinen, ungeteilt im Augenblick zu sein, so wie es das Kleinkind noch beherrscht, das dich unverwandt und hingebungsvoll anblickt und zugleich hinlauscht. Sein ruhig schauendes Auge und sein lauschendes Ohr scheinen noch zu einem Organ des Glücks vereint zu sein. Muss es, gleich der Vertreibung aus dem Paradies, geschehen, dass jeder von uns die Fähigkeit verliert, mühelos „vom Blatt zu spielen“?
Damals erklang die Sinfonie des Lebens noch vollständig und auf rein gestimmten Instrumenten gespielt. Doch das Kind vergaß das Ganze, verlor die Sicherheit des „Von-Selbst“. Als es erwachte und sich der Sinfonie sehnsüchtig erinnerte wie eines verklungenen, wunderbaren Traums, sah es sich vor einen wirren Wald von Wegweisern versetzt: Du sollst, du musst, du darfst, du darfst nicht, du bist, du musst so sein usw. Und das Reisegepäck für die weitere Lebensreise – ein großer Koffer – war vollgestopft mit „Sei schön artig“, „Tu, was man Dir sagt“, „Bescheidenheit!“, “ Harmonie“, „Das tut man nicht“, „Unser Bester“, „Lieber Gott …“, „Sünde“ … .
Doch all dies war, gewollt oder ungewollt, vergiftet mit dem Gift des „Nicht-leben-Dürfens“.
22. August 2018
In einer Schule begegnete ich Simon Rattle. Er stand etwas abseits und beobachtete eine Gruppe von Frauen, die einen Kreistanz einstudierten. Ich sprach ihn vertraulich an mit „Hey Simon!“ und bezog mich dabei auf ein Konzert anlässlich des Tags der offenen Tür in der Berliner Philharmonie, bei dem ich vor einigen Jahren unter seiner Leitung im Projekt-Orchester mitgewirkt hatte. So war der Ton zwischen ihm, dem Nahbaren, und mir doch gleich vertraut, obwohl er sich unmöglich meiner erinnern konnte. Er äußerte sich skeptisch gegenüber dieser Art des Tanzens: „Nicht mein Ding„, sagte er, und es klang trotzdem wohlwollend. „Something is wrong.“ Ich konnte ihm nur zustimmen. Später übernahm er in einem Klassenraum, in denen sich ein Flügel und ein Cembalo befanden, den Unterricht, wobei er schwierige mathematische Zusammenhänge schlüssig erklärte – ungewöhnlich genug, da wir von ihm eher musikalische Erörterungen erwartet hatten.
Der Autor und Regisseur unserer Träume zitiert oft in unseren Träumen aus unseren Sinneseindrücken. Aber: Darf ich deshalb als Co-Autor, Regieassistent und Darsteller meiner Tages- und Sinneswelt das Umgekehrte tun und aus meinen Träumen zitieren? Täte ich’s aber nicht: Was wären denn dann Ideale, Bilder, Gedichte, Musik, Kunst, die Verbindung und Liebe zu Menschen, zu mir selbst, zur Natur …?
21. August 2018
Jakob Wassermann, der große Romancier und Anwalt „Kaspar Hausers“, zeichnet immer wieder in seinen Romanen, gleich einem Leitmotiv, den lichtlosen Typus des Kleinbürgers, dessen also, der aufblicklos, ohne Ideale, geschichtslos und ideenlos, ans materielle Dasein versklavt ist, und daher jeden Moment der Freiheit benutzt, um sich zum Herrn über Schwächere zu machen und ihnen die eigene Demütigung heimzuzahlen.
Dieser Typus bildete u.a. den Nährboden für den Erfolg der hitlerischen Wahnideen: Hitler, der zu einem „Aufblick“, zu etwas vermeintlich Höherem, Verbindenden an Lebenszielen verführte und zugleich zu erzwingen trachtete. Möglich wurde das wohl auch durch eine Art „Umpolung“: Die Zeichen wurden vertauscht (darin steckt auch „täuschen“), die „Sonne ging nun rückwärts“, das Untere ward zum Oberen, und das bislang Obere zum Niedrigsten. Die Menschen blickten mehr und mehr statt in den Himmel in den Abgrund, ja mehr noch: So tief waren sie gefallen oder hinuntergedrückt, dass sie zum Abgrund aufblickten.
16. August 2018
Von hier aus, hoch oben im „freien, felsigen Norden“, im Morgenglanz der Waldlichtung, der Birken und Fichten, umschwirrt von der Libelle, dem Tagpfauenauge, Hauhechel-Bläuling und Golddukatenfalter und beäugt vom Rotkehlchen und der Eidechse, erkannte ich ihn, den Konsumtyrannen, den Dollardiktator mit dem goldgefärbten Haar, den von Mammon gezeugten Sohn: aufblicklos, brutal ans Profitdenken angeschmiedet mit ehernen, schweren Ketten; ein Bote und Diener der Finsternis. War denn nicht auch er einst ein Menschenkind: ein kleiner, neugieriger, lebhafter, gedemütigter, missachteter Junge, dazu verurteilt, „es“ Vater und Mutter unentwegt beweisen zu müssen … vergeblich.
15. August 2018
Impressionen von der Ostseeinsel Gotland
Setzt du in einer lauen Sommernacht, vom schwedischen granitenen Festland kommend, nach Verlassen der Fähre deinen Fuß auf die Insel Gotland, so betrittst du eine unerwartete, fremd anmutende Welt. Und wäre es eine Nachtfähre, mit der du Gotlands Hafenstadt Visby spät abends erreichst, und du würdest, magnetisch angezogen von den angestrahlten Umrissen des Doms, der mächtigen Fassade der Ruine von St. Nicolai, den uralten verschachtelten Häusern mit ihren mittelalterlichen Treppengiebeln oder der Stadtmauer, um dann schließlich auf dem Stora Torget, dem großen Marktplatz mit der gotischen Ruine von St. Karin anzukommen, weil der Nachtwind Musik, Stimmengewirr und Gelächter lockend zu dir hinwehte, so würdest du dir vielleicht die Augen reiben. Was ist das? Bin ich hier – mitten in der Ostsee – wie auf einem Zauberteppich in den Süden Europas versetzt worden? Es ist, als wärest du auf einer südländischen Piazza gelandet, wo ein rauschhaftes, lebhaftes Leben, Genießen, Flirten und Flanieren erst mit der Dunkelheit richtig erwacht …
Dein erster Weg am Morgen nach einer kurzen Nacht führt dich durch ein gewundenes, von blühenden Rosen duftendes Gässchen vielleicht an den Rand einer Klippe, zu deren Füßen das Meer sanft an den Strand anschlägt. Die Schreie der Möven und das ekstatische „Srriii Srriii“ der Mauersegler begrüßen dich. Und wieder erstaunst du über diese Fremdheit des Bodens, der Vegetation: Es scheint, als wäre diese Insel ein besonderer, mitten in die Ostsee gefallener Meteorit, aus hellem, lichtem, sonnendurchtränkten Material verdichtet, dessen schroff-karstige Steilküsten, die hellen, klingenden Klappersteinstrände mit ihren uralten höher gelegenen, Jahrhunderte und Jahrtausende alten Strandlinien eine Sonneninsel gebildet hätten …
Doch nach und verstehst, begreifst du, dass diese Insel kein Fremdkörper ist, der von oben, vom Himmel ins Meer stürzte, sondern eine Masse, die sich von unten, aus den Tiefen eines Urmeeres und seines schlammigen Urgrundes in unvorstellbaren Jahrmillionen verdichtete, verhärtete, sich von dem Panzer des Eisriesen befreit allmählich hob und schließlich aufwölbte, dem Sonnenlicht entgegen, gebildet aus Myriaden von Skeletten: Korallenriffe, Algen, Weichtiere, Muscheln und den ersten Fischen …
Wer auf Gotland nicht zum Steinesucher, zum Süchtigen und zum Sammler von Versteinerungen werden will, der jedoch sollte diesen Ort tunlichst meiden …
Beim Steinesammeln am Klappersteinstrand von Ygne unterhalb Fridhems auf der Insel Gotland: ist das nicht letztlich meine Suche nach dem Stein der Weisen:
Vom Himmel gefallene Findlinge aber sind wir alle, Fossile unserer eigenen Vergangenheit, im Hier und Jetzt immer wieder zum Leben erweckt.
14. August
Nach dem Besuch des dämmrigen, engen Antiquariats nahe der Domkyrka von Visby begab ich mich, das gleißende Mittagslicht meidend, in den Schatten der alten Linden, die den Vorplatz und den uralten, ehemaligen Friedhof unterhalb der hohen Domklippe beschatten. Ich ließ mich, mit dem Rücken an eine große, aufgerichtete Grabplatte gelehnt, am Fuß der Klippe nieder. Meine Augen schweiften über die Ruhesuchenden, die sich etwas unterhalb auf der Wiese, auf und neben Grabplatten oder Kreuzen niedergesetzt oder ausgestreckt hatten. Ahnten die Schlummernden unter den sanften Flügeln der rauschenden Blätterkronen, dem heiteren „Jak Jak“der Dohlen und dem gedämpften Orgelspiel aus der Domkyrka, dass sie auf hunderten von Gräbern ausruhten, über den Gebeinen vieler Generationen, die hunderte von Jahren hindurch dort bestattet worden waren? Wäre den friedlich Schlummernden bewusst gewesen, wo sie sich zu einem Nickerchen ausgestreckt hatten: hätten sie’s dann auch getan? Und würde jemand sie sanft wach gerüttelt und aufmerksam gemacht haben, dass sie über Gräbern und Gebeinen schliefen – hätten sie sich nicht mit Unbehagen erhoben und wären diesem von Tod, Vergänglichkeit, Ahnung und Gegenwart aufgeladenen Ort entflohen? Und ich begriff das Wort vom „Schlaf als dem kleinen Bruder des Todes“ …
Visby/ Gotland. Blick auf den alten Hafen (Almedalen) und den Dom
13. August 2018
An wen bloß erinnerte mich die schöne, türkische Mittdreißigerin mit ihrem ausdrucksvollen Blick, die ein paar Meter entfernt im Eingangsbereich des Boardingshops der Fähre bediente? Sie wirkte in ihrem marineblauen Kostüm umso anziehender, als die vielen Konsumenten, die dort kamen und gingen – Urlauber, muskulöse, abenteuerlich tätowierte Trucker, quirlige polnische Jugendliche, ergraute Lehrerehepaare und vorzeitig gealterte und aufgedunsene Sinti-Romafrauen mit riesigen Hängebusen unter den schlabbrigen, viel zu großen Kleidern, die zu wiederholten Malen den Eingangsbereich mit „Elektronik“, Uhren und Parfüms in ihren Socken und abgetragenen, offenen Schlappen schlurfend in Augenschein nahmen – nur ausnahmsweise einen erfreulichen Anblick boten.
Die Schöne – ich nenne sie Meryem – hatte wohl bemerkt, dass ich sie nicht nur einmal flüchtig angeschaut hatte, und sie blickte ab und zu ernst zu mir zurück, als wolle sie sich wegen etwas vergewissern, um sich dann wieder der Kasse, einer Kundin, ihrer blonden, kurvigen Kollegin oder dem Auspacken und Einsortieren von „Nachschub“ zu widmen: ein merkwürdiges Augenspiel, dem die Zeit der Überfahrt auf der Fähre ihre Grenze setzen würde: trotzdem, oder gerade deshalb rollen in solchen Situationen zeitrafferartig Lebensentwürfe – unlebbare und doch wünschbare und mögliche Lebens- und Liebesituationen – vorm inneren Auge ab, als würde „das Schicksal“ darüber hinscannen …
In dieser parfümduftschwangeren Hochglanzwelt teurer, begehrenswerter Edelmarken und großer, einschüchternder Hochglanzfotos perfekter, in Extase erstarrter Schönheiten verwandelte sich die so seriöse Verkäuferin Meryem aber unvermittelt in ein ausgelassenes Mädchen: plötzlich, ja blitzartig warf sie nämlich einen zerknitterten Kassenzettel einer vorbeigehenden Kundin in den noch leeren Warenkorb. Sie hatte gut gezielt, ihre Augen blitzten mutwillig auf, ihren Treffer befriedigt quittierend. Die Dame mit dem Korb schien nichts gemerkt zu haben. Vielleicht dadurch gereizt zielte Meryem erneut und warf zielsicher einer der schlurfenden Sintimatronen eine Papierkugel an den Nacken. Diese hatte etwas verspürt, wendete sich irritiert um, doch Meryem, das Unschuldslamm, war konzentriert in ihre Arbeit vertieft. Ihre Kollegin aber war amüsierte Zeugin des Anschlags gewesen.
Kaum war das Opfer im weitläufigen hinteren Bereich des Shops verschwunden, blickten sich die beiden verschwörerisch an, und Meryem bog sich vor Lachen zur Erde, machte einen Luftsprung, bevor sie nun ihre Kollegin mutwillig zu bewerfen begann. Der Mutwille, das Gelächter und der Tanz des Ausweichens der beiden kostümierten mädchenhaften Frauen vor ihren gegenseitigen Papiergeschossen verzauberte diese sterile, erstarrte Konsumwelt wie mit einem Zauberschlag: herrliche, plötzliche Wandlung einer Larve in einen lebendigen, farbigen Schmetterling voller Lebenslust und Spontanität: ungeahnte Entfaltung von Lebensmöglichkeiten …
Die Geschichte von Ebba, der Seemannstochter
Ebba, die Tochter eines gotländischen Seemanns, war schön wie das Licht der Sonne kurz nach Sonnenaufgang. Derart aber war ihre Schönheit, dass viele Angst vor ihr hatten. „Aussichtslos, sinnlos“, dachten die einen. „Die ist schon längst vergeben“, meinten andere. Auch: „Ich bin ihrer nicht wert.“ Oder es verschlug einem, dem sie gefiel und der ihr in die Augen zu schauen wagte, vor Herzklopfen die Sprache, und sein Mut verließ ihn gleich wieder. Was sollte daraus werden? Liebe und Angst – das geht nie zusammen!
Ebba aber war oft bei ihrem alten Vater, war für ihn da, sehnte sich jedoch oft insgeheim nach Einem, der sie begehrte und brauchte; Ihr wisst schon: begehren, brauchen, da sein für einander, ein Du und ein Ich. Und trotzdem liebte sie ihren alten Vater, der sie brauchte, und kümmerte sich um ihn.
Aber wenn sie aufs Meer hinausschaute, dann fühlte sie sich wie gefesselt und angebunden. Ach, welch ein Zwiespalt in ihrer Seele!
Also ging sie eines Tages den Domberg hinauf zu einem weisen Mönch. „Was mache ich nur falsch, Meister?“ fragte sie „Niemand begehrt mich, alle machen einen Bogen um mich, und die Anderen, die sich nach mir umwenden und mir nachzischeln – niemals will ich mit denen zu tun haben!“
Der Mönch sah sie schweigend an. Dann blickte er hinunter aufs Meer, auf die Bucht unten mit dem Hafen, wo die großen und kleinen Schiffe ein- und ausfuhren.
„Du kannst es nicht wissen, Ebba, so wenig, wie eine Blume weiß, dass sie blüht. Der, nach dem Du Dich sehnst, hat sich verletzt, und seine Wunde ist noch nicht lange verheilt. Und darum ist er vorsichtig, weil er fürchtet, die Wunde könne wieder aufbrechen.“
Was kann denn ich dafür ?“ fragte die junge Frau fast trotzig. „Was kann ich denn tun?“
„D u kannst gar nicht dafür, Seemannstochter. Aber was Du tun kannst, ist dein Lassen: Lass ab davon, zu suchen und zu warten, Ebba. Tu, was getan sein muss, und tue es mit Liebe!“
Und der Mönch wies aufs Meer hinaus, wo gerade ein Segelschiff mit einem purpurroten Segel, vom Wind getrieben, dass es eine Lust war anzusehen, auf den Hafen zusteuerte, um dort zu landen und festzumachen.
„Segeln ohne Wind, Ebba, wie soll das gehen? Den Wind kannst du nicht machen, aber du kannst ihn mit Lust nehmen, wie der Schiffer dort unten es tut.“
Und sie verstand den Mönch mit dem Denken ihres Herzens, erhob sich alsbald dankend und eilte den Domberg hinunter zur Steinmauer, wo die Schiffe festmachten, streckte ihre Arme entgegen und fing die Leine auf, die ihr ein Schiffer zuwarf, und sie vertäute das Segelschiff, so, wie sie’s von ihrem Vater von klein auf gelernt und oft getan hatte. Das Boot aber mit dem purpurroten Segel war es gewesen, und der Schiffer wich Ebbas Blick nicht aus, so wenig wie sie dem seinen auswich …
12. August 2018
Bei einem Aufenthalt auf einer Insel stellt sich für mich die Frage nach meinem „Woher“ und „Wohin“ deutlicher als auf dem Festland des Berufsalltags: die insuläre Situation, die Isolation, synchronisiert sich mit meinem „Ich“ und dessen Grenzen- oder Entgrenzungserfahrungen.
Im planetarischen Maßstab: Ist nicht jeder der Kontinente eine Insel? Und wiederum unser Heimatplanet Erde eine Insel im „schwarzen Meer“ des Weltalls? Ist seine blau – leuchtende Erscheinungsform nicht die Farbe tiefsten Heimwehs: eines Heimwehs sowohl nach der Erde (aus der Sicht eines Astronauten oder eines anderen Himmelbewohners) als auch nach dem schwarzen, sternenübersäten Meer, dem Kosmos, dessen Anblick mir diese Augustnächte schenken?
„Wie ein Säugling im Schoß der Mutter. In meinem Raumschiff bleibe ich immer das Kind der Mutter Erde.“ So der polnische Astronaut Miroslav Hermaszewski.
R. schrieb mir von ihrem Inselaufenthalt: Der Schrei der Möwe – in seinem Klang erlebe sie zugleich Sehnsucht und tiefstes Heimatgefühl. Der Möwenschrei hatte mich bisher unaussprechlich berührt. Jetzt aber habe ich Worte. Er berührt mich und schließt sich mir auf in eben dem Sinn, den R. aus ihm herauszuhören vermochte.
11. August 2018
Mauersegler
An den Küsten des Abendlichts, im Einklang selig kreisend,
jagen die Delphine der Lüfte im lustvollen Spiel
über den Häuserriffen, tief und tiefer,
den Grenzen des Himmelsozeans zu …
Ferne jetzt, nur noch zu ahnen,
ist ihr Silberjubel vor den still glühenden Wolkeninseln,
himmelhoch, jauchzend, zum Leben befreit.
(Visby/ Gotland, im August 2018)
10. August 2018
Du kannst mit dem Kopf, mit den Armen, den Beinen noch so oft und noch so hart dagegen anstoßen und anrennen: es gibt in deinem Leben Tatsachen, die sind ebenso unumstößlich wie ein Stein unter der Wasseroberfläche: Du musst um ihn herumschwimmen.
9. August 2018
Ich stand vor den Grabstellen meiner Mutter, meiner Großeltern, meiner Tante, meines Onkels, deren Grabsteine und Schriftformen in der gleichen Farbe und Form gestaltet sind. Ich las die Geburt- und Sterbedaten und ein kombinatorisches Spiel begann. Die Jahreszahlen, die Monate und Tage erschienen mir wie Larven, Maskierungen oder Verschlüsselungen eines tieferen Sinns. Aber die Maske der Zahlen saß fest auf dem Antlitz des Schicksals, das sich darunter verbirgt. Es will sich noch nicht zeigen. Erst, wenn ich durch die Zeitmembran hindurch auf die andere Seite des Stroms gelangt bin, wird sich’s mir entschlüsseln.
8. August 2018
Das Smartphone: Das heraussezierte Innenleben des Gehirns in Teilaspekten, reduziert auf ein Rechteck von ca. 12 x 6 cm: ein Spiegelbruder oder eine Spiegelschwester im Westentaschenformat, welche – noch – vergeblich danach trachten, ihren Besitzer oder ihre Besitzerin ihrerseits zu besitzen.
Erinnerungen von Imre Kertész an „Buchenwald“. Kaum vorstellbar ist eine größere Wucht am Ende seiner Erinnerungen an seine KZ- Erlebnisse, als er auf die Frage eines Journalisten, der, eine große Story witternd, den Jüngling fragt, was er empfände. Lapidare Antwort: „Hass.“ Der Journalist hakt nach: „Hass auf wen, auf was?“ „Hass auf a l l e s!“
7. August 2018
Morgenstunde, Gold des Tages,
schenkst mir Morgenglanz und Leben.
Auf der Lichtung wispernd weben
leise Lieder hohen Grases,
singen Birken Wiegenlieder.
Vor dem dunklen Tannenhag,
perlt der selig-süße Schlag
des Fitis wieder, immer wieder,
verschwistert sich zur Freudenklage
sein wehes Lied mit Lieb und Leid;
sei’s zur Antwort, sei’s zur Frage
nach dem Woher? Wohin? Wie weit ?…
Morgenstunde, Gold des Tages,
schenktst mir Morgenglanz und Licht,
und beim Flüstern hohen Grases
schenke ich Dir dies Gedicht.
(Ygne/ Gotland, im August 2018)
21. Juli 2018
J. S. Bach, der in seiner Musik das Göttliche mathematisiert und musikalisch auslegt. Damit gehört er zu den ganz großen Aufklärern. Selbst noch die blumigste barocke geistliche Lyrik wird durch seine musikalische Bildsprache in etwas Zeitloses transformiert. Und seine nicht wortgebundene Musik berührt immer die Sphäre, wo ein Gedanke, ein Wort, ein Satz, ein Gespräch einem als Musiker oder musischem Zuhörer „auf der Zunge liegt“: Vieldeutige Eindeutigkeit und eindeutige Vieldeutigkeit – ein Vexierbild, das mich zwischen menschlich-schmerzerfahrener Tiefendimension und freudig-leuchtender Höhendimension zum „Denken des Herzens“ herausfordert und zugleich beschenkt.
Bach’s Musik verkörpert eine Ordnung, gespannt wie ein kunstvoll geflochtenes Netz über einen unergründlichen Abgrund. Oder: der weite, tiefe Ozean, auf dessen Spiegel sich der Himmel mit Sonne, Mond und Sternen abbildet.
Bach – ein Erleuchteter. Mendelssohn, Niels W. Gade, Brahms, Schuhmann und Reger… : von ihm erleuchtete Jünger.
J. S. Bach
In der Tiefe wohnt die Trauer,
Lindern Tränen und vergeben.
Aus dem Dunkel wehen Schauer
Lichtem Blau und Tag entgegen.
Rhythmen wollen sich entrollen,
Bild und Muster sich beleben.
In Präludien und in Fugen wollen
Sie am Ja zum Leben weben.
Alle Schönheit ist Bewegung.
Ihrem Werden hingegeben,
Kreist in tönender Versöhnung
Sie um Liebe, Sehnsucht, Tod und Leben.
Aus der Tiefe wächst das Leben,
Wächst und wächst und wirkt mein Ja.
Im Vergehn die Töne geben,
Was ihr Sinn für mich gebahr.
20. Juli 2018
Hitlers Töchter
Ich begegnete im Traum Hitlers Töchtern: zwei gepflegte, attraktive Frauen mittleren Alters im Hosenanzug und schickem Kostüm, das die schönen Beine der Letzteren verführerisch zur Geltung bringt. Sie transportieren den Nachlass ihres Vaters auf einem großen Pferdewagen, wie ihn z. B. die 1945 aus Ostpreußen Flüchtenden benutzten … Hat die Frauenquote die Sphäre des Traums erreicht?
Im Traum: Hitler im Bett liegend. Nur sein Kopf, seine Augen schauen streng, ja fanatisch unter der Bettdecke hervor. Das Bett aber gehört eigentlich einer geistig behinderten alten, gutmütigen Frau, die geistig auf dem Niveau einer Erstklässlerin erstarrt ist. S i e sollte dort eigentlich liegen. Entschlossen trenne ich mit einem Messer den Kopf vom Körper ab – ein mühsames, blutiges Unterfangen. Zu meinem Entsetzen aber lebt der Kopf auch im abgetrennten Zustand weiter. Die Augen rollen und blinzeln, der Mund, die Lippen formen hitlerische Worte – einfach nicht totzukriegen.
Kannst Du einem Kummer, einem Schmerz mit natürlichem Stolz begegnen, ihn tragen und daran reifen? So gleichst Du einem Kajakfahrer, der weit draußen auf dem See unversehens in stürmisches Wetter geraten ist. Du kannst am ehesten lebendig und heil ans rettende Ufer gelangen, wenn Du mit den Wellen und nicht gegen sie paddelst.
19. Juli 2018
… und der Vorhang der Wohlanständigkeit im Tempel zerriss von oben bis unten, während die Aufrichtigkeit gekreuzigt wurde … und verschied.
18. Juli 2018
Segnen und Lassen
„Meister, woran erkenne ich den Weisen?“ wollte der Schüler wissen. „Geh hin und schau, wie er küsst,“ antwortete der Lehrer. Der Schüler ging hin und erblickte von weitem den Weisen, wie dieser eine schöne Frau leidenschaftlich umarmte und lange auf den Mund küsste. Fassungslos und enttäuscht erzählte der Schüler dem Meister davon. Der Meister schwieg.
„Meister, woran erkenne ich den Weisen?“ fragte der Schüler wieder, diesmal etwas ungeduldig. Und der Meister entgegnete wieder: „Geh hin und schau wie er küsst.“
Der Schüler tat also, und wieder sah er, wie der Weise dieselbe schöne Frau innig küsste und leidenschaftlich umarmt hielt. Als er sich von ihr verabschiedete, nahm er sanft ihren Kopf in seine Hände und ihre Augenpaare versenkten sich einen Moment ineinander. Dann küsste er sie innig auf ihre klare Stirn, woraufhin er sich umwandte und seiner Wege ging, ohne sich noch einmal zu ihr umzuwenden. Der Schüler erzählte dem Meister, was er gesehen hatte.
Der Meister aber sprach zum Schüler:„ So geh Du deiner Wege. Trenne und verwechsle fortan nicht den Reiz mit dem Sinn des Lebens! Lasse los und segne, wem immer und was immer Dir begegnet!“
16. Juli 2018
Sanfte Revolutionen
Die Liebe auf der Fluchte
vorm Kummer seufzend suchte
Asyl in einem Schneckenhaus.
Bleib ich? Zieh ich aus?
fragte sich die Schneck
nach dem ersten Schreck.
Lange ging’s so hin und her …
Doch, sanft und revolutionär,
wollte die Schnecke fortan gern
ihr Leben grundlegend modern
ändern, ganz im Sinn von Mobilität,
indiv. Freiheit und mehr Flexibilität.
So bat sie die Liebe ins Schneckenhaus hinein.
Bis auf Weiteres weilt diese dort allein.
Die Schnecke aber zieht fortan
nackt ihre Lebensbahn …
15.Juli 2018
Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 – ursprünglich ein luxuriöses Vergnügungsschiff unter dem Motto „Kraft durch Freude“, einschließlich einer Luxussuite für „den Führer“- ist für das „Tausendjährige Reich“ das, was die „Titanic“ 33 Jahre zuvor für das auftrumpfende industrielle Zeitalter war und wiederum rund 300 Jahre zuvor der Untergang der schwedischen“Wasa“ in den Schären von Stockholm: Symbole unmenschlicher, nationalistischer, materialistischer, technologischer, militärischer Hybris und vermeintlicher Weltmacht. Bei diesen Katastrophen versanken jeweils zeichenhaft eine ganze Epoche und ihre jeweiligen Wahnvorstellungen mit. Dass dabei Hunderte, Tausende Unschuldiger mit in die Tiefe gerissen worden sind, bekräftigt diese Tragödien mit größtmöglicher Wucht.
Vielleicht macht auch dies den unheimlichen und ungeheuerlichen Eindruck aus, den der Anblick dieser Schiffswracks ausübt. In höchster Steigerung erlebte ich das im „Wasa-Museum“ in Stockholm, das um das gigantische königliche Schlachtschiff geradezu herumgebaut wurde, und in dem eine ganze vergangene Epoche – Machtpolitik, Wirtschaftsmacht, Schiffsbau, Handwerke aller Art, Künste, Malerei, Musik, religiöse Konfession, menschliche Schicksale usw. ihre Auferstehung feiert: zugleich ein Triumph des Geistes unseres gegenwärtigen Zeitalters, das mit der einen Hand atomisiert, digitalisiert und zerstört, mit der anderen aber akribisch restauriert und konserviert.
Der Glaube an die Unsinkbarkeit der „Titanic“ – ein mühsam maskierter und durch die Ereignisse entlarvter Machbarkeitswahn – erlebt seine Metamorphose u.a. in der Vorstellung, es könne „sichere Endlager“ (eine Million Jahre lang) für atomare Abfälle geben. Schon die Suche unter dieser Prämisse ist Ausdruck von Geschichtsvergessenheit und beruht wahrscheinlich auf demselben Wahn – s.o.
Die geradezu dämonische Gier der Macher, die die Welt nicht nur beherrschen, sondern sie auch aufzehren, ja fressen …
In Mephistos Blutbahnen fließt elektrischer Strom. Auch darum ist für ihn „Blut ein ganz besonderer Saft“.
10. Juli 2018
Wenn wir Menschen anfangen, Gott, Schicksal, Herren des Zufalls zu spielen (im geheiligten Namen von Nutzen und Zwecken) mutieren wir unweigerlich nach und nach zu einer Art von Teufeln.
So wie es einen Kadavergehorsam gibt, so auch einen Kadaveridealismus. Am Ende stehen immer wieder, unbelehrbar durch „die Geschichte“: Kontrolle, Denunziation, Gefängnisse, Tortur, Blut. Schließlich: die Selbstzerstörung, das gegenseitige Sich-Auffressen.
Wenn die Angst schwanger ist, gebiert sie früher oder später den Wahn. Wer aber ist der zeugende Vater?
Auch die hehrsten Zielsetzungen und Bewegungen kommen an den Punkt, an dem sich die ursprünglich geeinten Wege trennen, die Geister sich scheiden. Diese spaltende Kraft ist wohl etwas sehr Menschliches. Politische Bewegungen, Religionen bilden so nach und nach amorphe Gebilde, die wie durch wuchernde Zellteilungen entstehen.
Paulus, der unermüdliche Mahner und Briefeschreiber, der Erleuchtete von Damaskus, ahnte oder wusste voraus, welche Auswüchse aus dem Christentum entstehen würden. Daher sein Wort: „Nicht ich, sondern Christus in mir“: das erste und letzte einende Mittel gegen die Konfessionen- und Parteien-Aufspaltung.
9. Juli 2018
Berlin – Friedenau, Bundesallee. Ich hatte vollgepackt und eilig die Straße überquert und nun den Gehweg erreicht, der auch von Fahrradfahrern benutzt wird. Die Radfahrerin hatte ich nicht gesehen, und ein Ausweichen wäre zu spät gewesen, aber ihr Kommen hatte ich intuitiv gespürt: sie hatte sich statt mit der Fahrradklingel mit einem von Innen strahlenden Lächeln wie mit hellen Augenglocken angekündigt. Ich wendete meinen Kopf und begegnete nun auch sehend diesen Augenglocken. Für die Dauer von Augenblicken war die Welt im einenden, lebenszauberischen Fluss, statt in rauher Konfrontation.
8. Juli 2018
Jakob Wassermann („Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“) im Traum: „Verwechsle nicht den Sinn des Lebens mit dessen Reiz!“
6/ 7. Juli 2018
Die Eier im Nest des großen Urzeitvogels (taciturnitas quies silentium reticentia): Was schlüpft aus ihnen aus? Pflichtgemäßes, bedrückendes,- und unheilvolles, strafendes, tödliches, beredtes, gebrochenes, tiefes, goldenes, gemeinsames … SCHWEIGEN:
Die Mauern des Schweigens; das tödliche Schweigen der Ammen des Stauferkaisers Friedrich II. gegenüber den neugeborenen Kindern, die daran allesamt verkümmert und verendet sein sollen. Die gestellten Täter und Handlanger Hitlers, die im wahrsten Sinne in Schweigen ausbrachen; und immer wieder das wunderbare, tiefe Schweigen der Wälder und des Sternenhimmels (Eichendorff); das Gold des Schweigens; das Wachstum der Liebe im gemeinsamen Schweigenkönnen: flügge gewordene Junge des Taciturnitas.
1.Juli 2018
Vorfreude: Überholmanöver der Seele auf der Überholspur neben dem Körper. Überholt aber der Körper die Seele, bleibt letztere zurück: Erinnerung, Wehmut, Trauer, Müdigkeit, Depression stellen sich nach und nach ein.
30. Juni
Zu den Abschiedskonzerten Simon Rattles mit den Berliner Philharmonikern u.a. in der Philharmonie mit Mahlers „Sechster“ … als würde ein Sternbild über der schmutzig-schönen Hauptstadt untergehen, das in der Ära Rattle – Halsey (dem Freund und Dirigenten des Rundfunkchors) wie über einem goldenen Zeitalter des Vertrauens und der Menschlichkeit stand, ein konsequenter, natürlicher Führungsstil – das Gegenteil von Macht und Autorität durch Druck und Angst.
Der Nahbare oder: Simon Rattle begegnet Lisa Krause
… Es war im Jahre 2007, als ein grauer Lockenkopf mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken durch den beschaulichen Havelort wanderte, den schon Einstein vor seiner Emigration als seinen glücklichsten Rückzugsort geschätzt hatte. Mit einem Rucksack auf dem Rücken, ganz allein, führte der Weg des Spaziergängers einmal nicht zum Einsteinhaus, sondern zufällig auch zum gemütlichen Heimathaus nahe des Caputher Schlosses. Zwei rührige, hochbetagte Damen – hellwach, sehr gesprächig und vorzügliche Bäckerinnen – baten den unentschlossen vorm Heimathaus Stehenden hinein (wer könnte auch der freundlich-entschlossenen Art der mittlerweile über neunzigjährigen Lisa Krause, der einen der beiden Damen, widerstehen!) Sie bewirteten den fremden, sehr freundlichen, bescheiden-zurückhaltenden Wandersmann im kleinen Hof des Heimathauses ausgiebig mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen, kamen ins Erzählen, und der Besucher nahm nach ungefähr einer Stunde nicht nur sehr genaue Kenntnisse von Capuths Vergangenheit und Tipps für die weitere Fußwanderung mit nach Hause, sondern auch Erinnerungen an märkisches Urgestein: Frau Krause, ihr markantes, gebräuntes Gesicht, den klaren Klang ihrer Stimme, ihre blitzenden, wachen Augen – die verkörperte Geschichte des alten Schifferortes …
Wenige Tage später aber macht Frau Krause im Fernsehen eine erschreckende Entdeckung. Kaum traut sie ihren Augen. Da erblickt sie doch tatsächlich ihren Gast vom letzten Sonntag, die Berliner Philharmoniker dirigierend. Kann denn das wahr sein… und man hat nichts gewusst, und er hat auch nichts gesagt, na so was! Sie schießt schnell ein Polaroidfoto des Dirigenten, zeigt es tags darauf ihrer weltläufigen Freundin Erika. Kein Zweifel: Der bescheiden-sympathische Gast vom vorherigen Wochenende ist Sir Simon Rattle gewesen, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, ein Weltstar …
Der Begegnung Simon Rattles mit Lisa Krause folgt ein noch gewisses Happy End, und zwar Monate später, an einem eiskalten, windig-frostigen Berliner Wintertag.
Probenbesuch in der Philharmonie mit den Philharmonikern unter ihrem Chefdirigenten; ein uns tief berührender Schuhmann: „Das Paradies und die Peri“. Nur eine Handvoll Zuhörer wohnt der Probe mit dem Orchester und dem Rundfunkchor bei. Unweit von Frau Krause und mir, direkt hinter uns in Block B, sitzt Kyrill Petrenko, gespannt das Probengeschehen verfolgend, mit einer Partitur auf den Knien, ganz Ohr. (Heute, zehn Jahre später, ist er zum Nachfolger Rattles bestimmt – wer hätte das damals gedacht… ).Und zu welchem der Musiker mag wohl das Baby gehören, das sich jetzt, mitten in einer zarten, ergreifenden Passage von Schuhmanns Werk lautstark aus dem Zuschauerraum bemerkbar macht… .Wie wird der Dirigent reagieren? Simon Rattle dreht sich schmunzelnd um, und viele der Musiker quittieren die Töne des Babys ebenso freundlich und verständnisvoll. Wer weiß, vielleicht spiegeln sich in seinem Lächeln und seiner Bemerkung („Der will wohl schon mitmachen“) seine eigenen Vaterfreuden wieder? Nur einen einzigen genervt-vorwurfsvollen Blick sehe ich aus der Gruppe der Bratscher wie einen abgeschossenen Pfeil in Richtung des kleinen Schreihalses zielen: So was hätte es hier unter X. nie gegeben! Aber der Pfeil seines einsamen Ärgers trifft nicht, trudelt ins Leere … Gegen Ende des Stücks, in einer Art Apotheose, singt die Sopranistin (Kate Royal) Töne in einer Art, die nicht mehr mit Technik, sondern nur noch mit purer Hingabe möglich scheinen. Kaum ist die Musik verklungen, lässt sie sich auf ihren Stuhl sinken, streckt, fast liegend, alle Viere von sich, seufzt, lacht befreit und erleichtert – was für unglaublich pure, aller Pose und Maske entblößte Momente einer gelungenen Grenzüberschreitung, die einen jeden im Orchester und im Saal tief berührt hat; die Musiker klopfen lebhaften Beifall („die teuren Bögen!“ denke ich) und Sir Simon umarmt die glücklich erschöpfte Kate Royal …
Probenpause. Simon Rattle steht ein paar Meter von uns entfernt im Gang, im Gespräch. „Jetzt, Frau Krause, jetzt oder nie!“, dränge ich die noch respektvoll Zögernde,
die in ihrer Handtasche das Polaroidfoto vom Waldbühnenkonzert und eine vorbereitete Karte für das Gästebuch des Heimathauses griffbereit stecken hat. Ein wenig heißt es noch warten, dann ist Sir Simon frei. „Caputh lässt grüßen …“ beginnt sie. Im nächsten Augenblick schütteln sich die beiden herzlich die Hände, unverkennbare Wiedersehensfreude blitzt schalkhaft in den Augen des Dirigenten auf; natürlich erinnert er sich an seinen Besuch, an den guten Apfelkuchen, an die beredten Geschichten aus dem Munde von Lisa Krause; es amüsiert ihn, als sie, fast entschuldigend, gesteht, dass sie ihn nicht erkannte, nicht wußte, wer ihr da gegenübergesessen hatte. Zum Abschied ergreift Simon mit beiden Händen die Hände Lisas : „Ich habe eine große Freude in mir, Sie wiederzusehen!“
Und Lisa Krause hatte neben der ersten aufregenden Freude einer neuerlichen lebendigen Begegnung nun noch eine Weitere: ein schwungvolles Autogramm vom Nahbaren, für das Gästebuch ihres Heimathauses … als weiteres Kleinod für die Geschichtenschatzkammer des kleinen, idyllischen Havelortes.
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Abgeschossene Pfeile, die mit Zungenspitzen versehen sind.
23. Juni
Wer kennt das nicht: man treibt auf einer Party von Mensch zu Mensch, angenehm seicht im günstigen, anstrengend im ungünstigen Fall, meist beides. Beim Abschied aber wird es unerwartet verbindlich. Schon im Gehen begriffen, redest du dich fest, ja, der schon gelichtete Anker wird wieder zu Wasser gelassen. Das Zauberwort solcher Situationen lautet: Sine expectationes!
(Und glücklich, wer dies schon jetzt, und nicht erst kurz vor seinem letzten Abschied dann und wann zu beherzigen vermag).
22. Juni
Walisische Forscher wollten 2013 anhand von 6000 Islandmuscheln Erkenntnisse über klimatische Veränderungen gewinnen. Für die Untersuchungen wurden die Muscheln eingefroren. Eine der Muscheln – WG061294 („Ming“ getauft) war das bis dato älteste Tier des Nordpolarmeeres. Bevor man „Ming“ mit 5999 anderen Muscheln schockfrostete, hatte es allerdings noch gelebt. Bei „Mings“ Alter von 507 Jahren wirkt eine derartige Nachricht wie ein Fanal: wie erforscht Wissenschaft Lebendiges? Indem sie das Lebendige abtötet.
Ich höre es rumpeln und jemanden stöhnen: Goethe, sich im Grabe umdrehend, da er diese Nachricht vernimmt.
Am Potsdamer Platz in Berlin: Könnte es nicht sein, dass viele der heutigen Architekten in ihrer Kindheit zuviel mit LEGO und Playmobil gespielt haben?
21. Juni
Ich betrachtete die rissig – gefurchte Rinde einer alten Pappel. Für die Ameisen, die emsig am Stamm auf- und niederkrabbeln, sind die Risse und Furchen wie riesige, schroffe Erdspalten, Schluchten, ja Grand Canyons – der Stamm wirkt wie ein autonomer „Erd“boden, ein eigener Kosmos, der Schwerkraft entbunden, wie ja auch der Baum als Ganzes der Schwerkraft entgegen lebt und in ihrer Überwindung eins der großen Wunder auf unserem Planeten darstellt. Auch die Ameisen, Käfer, Insekten leben entgegen und unabhängig von der Schwerkraft: ihr Referenzpunkt ist die Kraft des Lichtes, der Sonne. Die Schwere kann ihnen nichts anhaben, wohl aber die Lichtlosigkeit, die Kälte.
Können Tränen klingen ? Der Klang der Laute: wohl kein anderes Instrument verkörpert so den Klang unserer menschlichen Tränen: denen einer stillen Freude, der wehmütigen Erinnerung, des leise-verhaltenen Schmerzes, dem Lächeln der Dankbarkeit, der Sehnsucht. Einer der größten Lautenkomponisten seiner Epoche – Silvius Leopold Weiss – war ein Zeitgenosse J. S. Bachs … und dessen Zwillingsbruder im „Geiste der Musik“. Aber es bedurfte und bedarf auch der ihnen zutiefst geistesverwandten Musiker und Forscher unserer Zeit der Nach- und Wiedergeborenen, ja geradezu der Archäomusikologen, um den Reichtum, die Sprache und den Klang der damaligen Lautenmusik wieder hervorzurufen: Zum Beispiel die legendären Lautenisten Hopkinson Smith, Robert Barto und heutzutage jemand wie der noch ganz junge Spanier Daniel Zapico …
20. Juni
Freiwillige Selbstunterwerfung
Die Tragikomödie eines Menschen, der sich durch seine Neigung zum voreiligen „Ja“ lebendig von seiner Umgebung, seinen Mitmenschen verschlingen lässt. (Mögliche Inschrift auf seinem Grabstein: „Allen das Rechte!“) Solchen zu begegnen ist, als würde man mit der Ente im Bauch des Wolfs („Peter und der Wolf“) kommunizieren. Sie ist zugleich da und doch nicht da. Unverbundenheit; das „Nicht-wissen-woran-man-ist“; Fata Morgana.
Vexierbild:
Sie wuchs über ihre Ängste hinaus … Ihre Ängste wuchsen über sie hinaus …Ihre Ängste wuchsen sich aus … Ihre Ängste wuchsen aus ihr heraus … Sie wuchs aus ihren Ängsten heraus, über sich hinaus …
19. Juni
Ein Märchenfragment:
Pessimistikos war ein blinder König, den nichts freute. Seiner pompösen Rechthaberei und seines üblen Atems wegen hielten alle Abstand zu ihm. Sein Blick machte andere stets klein, daher versuchte jeder, diesem Blick auszuweichen; fiel aber sein Blick doch auf jemanden, so fiel dieser, wie ein Kegel von der Kugel getroffen; oder er wurde von dem Gewicht des Blicks, der auf ihn fiel, niedergedrückt. Wenn dieser König einen Verbündeten umarmte oder ihm den Bruderkuss gab, lag alsbald der Geruch von Aufruhr und Geschrei, von zerbombten Straßen, von Tod und Verwesung in der Luft. Über dem Eingang zum Thronsaal seines Schwarzen Hauses prangte in bleiernen Lettern sein Motto: „Es gibt nichts Schlechtes, das nicht von einem noch Schlimmeren übertroffen werden kann!“
In der Hauskapelle des Pessimistikos stand das Bildnis des Gottes Pessimistos, des Gottes der Verneinung. Einer Legende nach habe er am Anfang Wesen anstatt aus Ton aus seinem eigenen Kot geformt, nach seinem Bilde.
Ungemaltes Bild von Otto Dix mit dem Titel: !“Der den Mund zu voll nimmt“. Darauf zu sehen der aufgerissene Rachen eines heutigen politischen Demagogen, dem Unrat entquillt.
„Individualisierungsfallen“: daran kleben Menschen auf der Suche nach sich selbst fest wie Insekten am Klebestreifen.
Ein Staatsschul-Lehrer in der Individualisierungsfalle: Sie oder er wird langsam in Stücke gerissen. (Der moderne Begriff für diese ausgeklügelte Foltermethode könnte vielleicht lauten: „Burnout“.)
17., 18. Juni
Um nichts in der Welt würdest du alles für ihn, für sie tun. Was ist „alles“? Was „nichts“? Und: Wer bist Du?
„Was um alles in der Welt hat dich da geritten?“ „Nichts -ich saß auf dem falschen Pferd.“ …“.
Das schlimmste Schimpfwort unter Hausschweinen lautet:“Du Mensch!“
16. Juni 2018
Die Lust von Kindern am Marschieren oder „Schule-wie früher-Spielen“: Kommandieren, Exerzieren und Gehorsam; Machtgefühle.
Habituelles Jasagen als Folge einer „Bildung als Anpassung“. Die abgebrühten Funktionalisten zu allen Zeiten wussten um die geheime Lust des Menschen zum Gleichschritt. Der Mitläufer: er sitzt im Boot ohne Anker, dessen Steuer gebrochen und dessen Segel nicht gesetzt sind. Dagegen die Kraft der Poesie eines Dietrich Bonhoeffer: „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“. Ein gefährliches Kraftwort für die Feinde des ICH. Der Ichfeind rächte sich dafür, indem er B. am Pendelgalgen aufhing und sich an dessen ohnmächtigen Todeskampf weidete.
Die verblühenden Rosen, in diesem Jahr so prächtig wie selten: ein kleiner Herbst, mitten im Sommer.
11. Juni 2018
„Da wo Du nicht bist, ist das Glück …“: eine Zeile aus Schuberts „Doppelgänger“. Von unseren Traumorten sind wir notwendig getrennt, sonst wären sie nicht mehr Orte des Traums. Ich stellte mir einmal eine Landkarte vor, mit einem Land, zusammengesetzt aus all meinen Traumplätzen und Wegen, sehr nahe beieinander, miteinander verbunden, schnell erreichbar und zugänglich – und empfand die Vorstellung davon als eine Quelle möglichen Unglücks, das in der Langeweile liegen kann: des Lebens Suppe ohne Salz.
Die Potsdamer Könige haben in ihren Schlössern, Parks und Gärten sich nach und nach einzigartige Traumorte geschaffen, etwa: Schloss „Sorgenfrei“, ein in Stein komponiertes Brandenburgisches Konzert; die gewaltige Orangerie mit ihren Allegorien, die in der Dämmerung lebendig werden – ein römischer Traum:
„Dort warst Du einmal ganz und heil/ Die Wunden durften sich schließen/ Aug in Auge leuchtete Dir die Welt/ und alle Fesseln sprengtest Du, Apoll … (Fragment eines unbekannten römischen Dichters aus dem 1. Jh. v. Chr.)
4., 5. Juni 2018
Ein allgemeiner empörter Aufschrei geht dieser Tage durch die Medien. Ein Parteibonze hat nämlich – ob fuchsschlau kalkuliert oder tumb-bräsig nach Beifall von Seinesgleichen heischend – die zwölf Jahre Hitlerterror mit einem „Vogelschiss“ verglichen, gemessen an tausend Jahren deutscher Geschichte. Für einen derart geschichtsvergessenen Vergleich braucht es wohl mehr Dummheit als Mut, immerhin ist der Mann ein ehemals hochrangiger Parteimann einer sogenannten „christlichen Partei“. (Nebenbei: Was würde Christus wohl heute zu unseren „christlichen Parteien“ zu sagen haben…? – Ich vermute, er würde sich als erstes umbenennen). Jenem Parteioberbonzen wurde nun beim Baden im See nahe seines Hauses im Potsdamer Nobelviertel ein „Streich“ gespielt, indem seine am Ufer abgelegte Kleidung gestohlen wurde. (Der Staatsschutz ermittelt wegen des Verdachts auf eine politisch motivierte Straftat … ). Ich hätte mir statt dieser Straftat einen dicken „Vogelschiss“ auf seinen Klamotten als Reaktion gewünscht, meinetwegen zusammengemixt aus alter Majonaise … Und: gibt es eigentlich einen Straftatbestand der menschenverachtender Ignoranz ?
2., 3. Juni 2018
Der Mont Saint-Michel oder die Kathedrale von Chartres: versteinerte Hymnen, Gebete. Eine Ritterburg dagegen: versteinerte Angst. Die Flossenbürg-Ruine in der Oberpfalz, auf einem hoch aufragenden Granitberg errichtet, bietet von der höchsten Plattform aus einen atemberaubenden Ausblick, eine Vogelschau über 60, 80 Kilometer weit bis zum Bayrischen Wald, dem Fichtelgebirge, ins Böhmische. U.a. auch die Staufer waren Eigner der Burg … . Ist nicht ein derartiger raumschaffenden Blick von einem hohen Berg aus schon eine Vorstufe über-sinnlichen Schauens? Denn Raum und Zeit begannen sich zu überschneiden, ja gegenseitig aufzuheben, während ich ins Weite schaute: sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft – und zugleich war ich ganz und gar gegenwärtig. In einem derartigen Tableau verlangsamt mit der Zunahme der Entfernung die Bewegung. Autos scheinen zu stehen, ein Wasserfall wirkt erstarrt, die Schwerkraft und der Ablauf der Zeit scheinen angehalten.
Im Staunen und dem sich verändernden Atmen verändert sich subtil mein – des Betrachters – Bewusstsein. Stifter, der im „Nachsommer“ ein derartiges Bergerlebnis schildert; Goethes „Über allen Gipfeln“. Gleiches beim Blick aus dem Flieger; auf’s höchste gesteigert: der staunende Blick des Astronauten auf die schwebende Erdkugel.
Von der Flossenbürg blickte ich herunter auf das Dorf, auf die Siedlung der ehemaligen Häuser der SS-Leute, das „Tal des Todes“ nahe dem KZ. Hier wurden neben vielen anderen Bonhoeffer, Hans Oster und Canaris ermordet.
Zur Mittagszeit ertönten minutenlang zwei martialische Sirenen zwecks Probealarm: Ein Ton, der die Landschaft verfinstert und die Vögel und Schmetterlinge verstummen und erstarren lässt. Dem Erfinder derartiger Sirenen, wie sie schon im Weltkrieg üblich waren, muss man eins lassen: kein Ton könnte die Bedrohung, ein latentes oder bereits eingetretenes Böses, eine nahende Katastrophe klanglich besser ausdrücken. Besonders tückisch und bedrohend klingt der Ton, wenn er anschwillt, um sich aufzuschwingen; beim Abgesang kam mir das Bild eines unzufrieden murrenden, knurrenden dämonischen Wesens aus einem Gemälde von Bosch, das sich unverrichteter Dinge wieder zurückziehen muss in seine Finsternis …
Die Ritterburg: versteinerte Angst. Der Sirenenton: ein Ton wie aus dem Vorhof der Hölle: Gesang des Bösen, des Terrors und Horrors. Dagegen die Glockentöne der Pfarrkirche in Theuern/ Obpf., die mich heute morgen weckten: eine Himmelsleiter aus reinen Obertönen, in der Luft schwebende, gläsern-leuchtende Trauben.
1.Juni 2018
Beim Steinesammeln am Klappersteinstrand auf der Insel Gotland: ist das nicht letztlich meine, unsere Suche nach dem Stein der Weisen? Vom Himmel gefallene Findlinge sind wir alle, Fossile unserer eigenen Vergangenheit, im Hier und Jetzt wieder zum Leben erweckt.
Sollte der Computerbildschirm etwa eine Wand aus Glas sein?
Die Klangfülle eines Chors oder Orchesters ist keine Frage der Masse der musizierenden Menschen, sondern des Hörens, der Resonanz und der darauf beruhenden Verbindung untereinander.
29. Mai 2018
Der kleine K. erzählt mir heute:“Mein Opa ist Schriftsteller.“ Ach, das wusste ich ja gar nicht. Hat er Bücher geschrieben?“ „Ja, der schreibt immer beim Anglerverein.“
Ich höre zwei Jungen (Erstklässlern) zu. A: „Ich liebe dich!“ B. (vehement): „Ich hasse dich!“ A:“Ich liebe dich!“ B: „Ich hasse dich!Ich hasse dich!“
C. unterbricht die beiden:“Ich weiß! Ihr hassliebt Euch!“
Wenn eine Schlange singen könnte, so würde sie nach erfolgreicher Häutung Oktaven singen. Während der Häutung, beim Kriechen durch enge Spalten, um die alte Haut aufzureißen und loszuwerden: chromatische Folgen, barocke Seufzermotive.
Früher war natürlich nicht alles besser, aber vieles wahrscheinlich echter. Heute reduzieren sich die Ideen von einst der sozial oder gar christlich-sozial ausgerichteten Parteigänger größtenteils auf Phrasen und auf vor allem leere Versprechungen. Dahinter oder darunter – unter dem doppelten, dunklen Boden: „die Wirtschaft“, die rattenhafte Gier lichtscheuer Gesellen, die fast alles diktieren – nur bei „Freiheit“ müssen sie passen, da ihr Diktat ins Leere greift. (Oder tut man den Ratten damit nicht Unrecht?)
In Absurdistan:
Abminderungstatbestände, Anrechnungstatbestände, Profilmerkmale.
Dagegenhalten mit: Socken auf dem Computer grillen, einen Pirol damit füttern und zum Nachtisch beim Licht einer Glühwürmchenlampe ein Vogelbeereis verspeisen. Das ganze bei Gewitterregen, nackt.
28., 29. Mai 2018 (Vollmond)
Mondnacht
(für Joseph von Eichendorff, könnte er mich hören)
Ach, Joseph,
hättest Du Dir je träumen lassen
damals, in jener Mondnacht,
als die Erde vom Himmel
noch still geküsst wurde,
in wirren Träumen
oder in heimlich dämmernder Pracht,
hinter Myrthen und in leis rauschenden Wäldern,
in denen die alten Götter
noch die Runde machten …
… dass Du, ja Du
im Jahre 2018
in einer funktionalisierten,
(okay, du warst seinerzeit Beamter in Berlin,
ich weiß, was das, damals wie heute, bedeutet hat)
zwangsstrukturierten, digitalisierten, sexualisierten
scheinfrei
zu Werbezwecken gestylten Welt
noch gelesen und gehört würdest?
Sinnhaft gehört werden k ö n n t e s t ?
War d a s für dich zu ahnen, auszudenken,
was uns bis hierher geführt hat –
uns unbelehrbare Schüler der Geschichte,
in unserer Trägheit der Herzen …
War dies auszudenken?:
Mozart- und Kanonenkugeln,
Bismarkeichen und Heringe,
Schiller- und Hitlerlocken,
die Pinselstriche eines mäßig talentierten Aquarellmalers,
mit denen Europa zum Tode verurteilt wurde;
Schauspieler als Politiker,
Lipotiker im Schauspiel der politischen Bühne,
von Geheimdienstintendanten geleitet …
mit ihren – parteiübergreifend –
nichtssagenden Wahrheiten,
der Wahrheit des Nichts
(was nur anderes Wort für nützliche Lügen);
Und die eiskalten Skalpelle,
die gewinnmaximierend
Herzen und Nieren aus Wehrlosen herausschneiden … Diese Motorsägengier,
die das wunderbare, tiefe Schweigen
und Rauschen der Wälder totschweigt:
„Für Millionen von Jahren sichere Endlager“,
die wie Seifenblasen
im Wahn erkrankter Hirne
existieren.
Das Summen der Bienen
ist noch nicht verstummt.
Doch die Wale
singen schon lange ihre Totenklagen
und stranden vor Entsetzen …
Was nun, Joseph?
Was singst Du nun?
27. Mai 2018
Besuch der Ausstellung „Archaeomusica“ im Landesmuseum Brandenburg. Zu sehen die wohl erste in Schriftform überlieferte Liedkomposition aus dem alten Griechenland:
Solange du lebst, lass Dein Licht leuchten.
Traure über nichts zu viel.
Eine kurze Frist bleibt zum Leben.
Das Ende bringt die Zeit von selbst.
(Inschrift auf der „Seikilos -Stele“, einer Vorform der Musik-Notation, gefunden in der heutigen Türkei ca. 200 v. Chr.
Zu sehen und zum Probieren u.a. auch klingende Steine: Aus scheinbar totem Gestein lassen sich reine Töne hervorbringen. Es brauchte dazu ursprünglich einen Schlüsselmoment. Die Pädagogik mit dem altmodisch gewordenen Begriff des „entdeckenden Lernens“ sollte solche Schlüsselmomente des Staunens und Aufhorchens schaffen, das die Urmenschheit über die Naturgeräusche des Wassers, des Windes, des Regens und Donners, der Tiere und vor allem der Vögel zur selbst hervorgebrachten Musik und den Instrumenten hinführte. War und ist erst der Schlüssel gefunden, so ließ und lässt sich eine ganz neue Welt öffnen.
Das galt und gilt auch für menschliche Begegnungen, das Freundschafts- und Liebeserlebnis, für Lehrer und Schüler, Ich-Du, Subjekt- Objekt. So ergab sich aus einem staunenden Schlüsselerlebnis etwa der Elektrizität nach und nach die Elektrifizierung unseres gesamten Planeten. Die antike Wasserorgel antizipiert schon Funktionsprinzipien, die zum Computer führen. Die Faszination gegenüber diesem genial konstruierten Instrument steht im frühen Mittelalter derjenigen in nichts nach, die „der Computer“ seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auslöste. Und auch an Verteufelungen fehlte es damals (wie heute) nicht.
Streichinstrumente: das Schwingungs – und Resonanzprinzip musste zusammengeschaut und erlebt werden (anschauendes Denken und denkendes Anschauen). So wurde möglicherweise der Schießbogen zum Musikbogen. Oder war es umgekehrt? Kain, der mit Pfeil und Bogen jagte, Abel, der die Bogensehne mit einem Stab zum Schwingen und Klingen brachte und die Vögel damit anlockte, die dann mit ihm musizierten … die ungeheure Überraschung des jeweils anderen Bruders über die Entdeckung des Anderen. Schon da vielleicht der Neid: Warum ist mir das nicht eingefallen? In Kain und Abel manifestiert sich schon eine Trennung, der Riss, der durch jeden von uns geht.
26. Mai 2018
Besuch in einer sogenannten Seniorenresidenz. Eine hochbetagte Dame verlässt nach dem Abendessen in ihrem elektrobetriebenen Rollstuhl den Raum. Dazu sind aufgrund der engen Räumlichkeiten einige Wendemanöver notwendig. Da fällt mein Blick auf die Typenbezeichnung ihres so hilfreichen Fahrzeugs. In großen weißen Druckbuchstaben lese ich da auf schwarzem Grund: KARMA. Ist das nun Ironie oder ein Wink des Schicksals?
22. Mai 2018
Gestern Tag der offenen Tür in der Berliner Philharmonie. Sechs Jahre ist es her, dass wir – 100 Musikerinnen und Musiker aus Wer-weiß-wie-viel Ländern – zum damaligen Tag der offenen Tür unter Simon Rattle spielten, mit unvergesslicher Intensität. Gestern nun war der Besucherandrang so groß, dass sich an allen Eingängen lange Schlangen gebildet hatten. Als bloßer Zuhörer war aber an einen Einlass ohne lange Warterei nicht zu denken, also verfolgte ich das Konzert des BE-Phil-Orchesters – 100 Musikerinnen und Musiker aus 32 Ländern – von einer Wiese aus auf einem riesigen Bildschirm vor der Philharmonie, zeitgleich also zum real concert im großen Saal.
Die Wiese, auf der ich halb sitzend, halb liegend neben und mit vielen anderen Menschen lauschte, bot ein buntes Bild: spielende Kleinkinder, tratschende „Zehlendorfer Witwen“, die doch auch endlich vor Brahms Feuer seiner 1. Sinfonie verstummen mussten, eine junge Farbige, versunken in Noam Chomskys Buch „Profit over people“ , während sich „Brahms over people“ über viele hingelagerte Menschen, deren Haltung konzentriertes Zuhören und Hinsehen verriet, mit exzellenter Tonqualität entlud; für mich eine merkwürdige Sicht von Außen auf etwas, was ich doch ganz von Innen her kenne mit dem Erlebnis von 2012: die Anspannung, das Gefühl, an etwas Einmaligem teilzuhaben und in der kontrollierter Extase, die durch gemeinsames Musikmachen möglich wird, „abzuheben“; die Landung am Ende im euphorischen Jubel des Publikums, getragen von der Erfahrung, dass der Probenweg dorthin, geführt von Simon Rattle und Stanley Dodds, eine höchste Herausforderung an Anspruch und Vertrauen bedeutete …
21. Mai 2018
Die sogenannte „intuitive Bedienung“ des Smartphones: diese Geräte, die allgegenwärtig die Körperhaltungen ihrer Bediener erstarren lassen, so dass man den am Smartphone Anhängigen schon von weitem erkennt: diese Geräte schwächen eine unsere wichtigsten Fähigkeiten, nämlich: uns selbst, mich selbst intuitiv zu bedienen, zu betätigen …
20. Mai 2018
Vor einigen Tagen ein Telefonwerbeanruf wie aus dem Haifischbecken. Eine ölige Männerstimme fragt: „Spreche ich mit Herrn J.M. ?“ „Nein, jetzt nicht mehr“, lautete meine Antwort. Sogleich hatte ich den Hörer wieder aufgelegt.
Ein Lehrer, der die Klasse versucht ruhig zu bekommen und in seiner Ohnmacht schreit: „Ruhe, verdammt nochmal!“ Eine Schülerin murmelt maulig in die plötzliche, schreckstarrende Totenstille: „Selber Ruhe.“
19. Mai 2018
„Da führte mich das Schicksal mit … ihm zusammen, und er lehrte mich verstehen, was Wünsche sind, was Warten, was Hoffen ist, wie sie miteinander verflochten sind, und wie man diesen Gespenstern die Maske vom Gesicht reißt. Wir haben sie die Zeitegel genannt, weil sie, wie die Blutegel das Blut, uns die Zeit, den wahren Saft des Lebens, aus dem Herzen saugen.“(Gustav Meyrink)
Ob die Pförtner am Bühneneingang der Berliner Philharmonie wissen, w e r da aus -und eingeht? Parallelwelten, die vielleicht nichts oder nur sehr wenig voneinander wissen. Ob sie darum wissen, was sich im Innern abspielt, was sich dort ereignet? Sie sehen Menschen mit Instrumentenkästen oder Aktentaschen kommen und gehen, grüßen und werden begrüßt. Haben sie Ohren zu hören, Augen zu sehen? Ahnt der Pförtner? Oder genießt er das Bewusstsein, zum geheimen Kreis der eigentlichen Weltenbeherrscher zu gehören – derer, die die Eingangsschwellen hüten, die Schlüsselgewalt innehaben und die die Lichtschalter zu bedienen wissen? Kirill Petrenko, der Nachfolger Simon Rattles – vor Jahren vor seinem ersten Dirigat an der Bayrischen Staatsoper – wurde im Foyer vom Personal angeherrscht, was er dort suche und was er hier wolle …
In der S- Bahn ein Pärchen, sich innig küssend. Wie selten ist so ein Anblick geworden – zwei, die sich küssen! Die ihr Liebhaben und ihre Zugehörigkeit an so einem Ort konzentriert und gespielt gleichgültigem Aneinander-Vorbei-Begegnens offen zeigen …
18. Mai 2018
Nichts stößt einen Menschen mehr von einem anderen ab, als das Gefühl, nur im Traum seines Gegenübers wirklich zu sein.
15. Mai 2018
Angst oder Liebe… Es steht etwas im Raum, eine Möglichkeit. Es würde nur einer Frage und einer Antwort bedürfen, um diese Möglichkeit zu realisieren. (Was auch bedeuten könnte, sie zu verwerfen, also sich g e g e n sie zu entscheiden.) Aber- die Frage bleibt aus, wird nicht gestellt; ihr Lebenskeim wird totgeschwiegen, bleibt ungewagt – und vergeht im Ungelebten.
In „Verlust“ steckte einst „Lust“ wie das Schwert in der Scheide.
Tragikomödie: die Scheu und Angst vor der Schönheit seines Gegenübers, was wiederum ihr, der Schönen, Angst macht. Unausgesprochenes: „Mir macht Deine Angst vor mir Angst.“ Die Geschichte endet mit dem Satz:…“und wenn sie nicht gestorben sind, so gehen sie sich immer noch aus dem Weg.“
Im Aquarium der Wirklichkeit wird langsam der Sauerstoff knapp. Dessen Bewohner ringen nach der Luft der Wahrhaftigkeit.
Gregorianik: Gesänge, Schwingungen wie aus dem Innern von kooperierenden Zellen; ein plasmatisches Atmen des Metrums, das aber noch nicht die erdverbundene „1“ betont. Nur Zielpunkte, Landungspunkte des Fluges werden wie schwankende Äste angesungen, kurz aufgesetzt, um sich erneut abzustoßen und aufzuschwingen.
Symbole als mögliche Schnittstellen zwischen dieser sinnlich erfahrbaren Welt und der Welt der Seele und des Geistes. Bilder, Musik, Glockenklang, die den Hörer, Betrachter an die Grenzen der Zeit, an die Zeitmauer führen, dorthin, wo die Wand ganz dünn, ja transparent werden kann. Die Glasfenster der Kathedrale zu Chartres. Die Steinsetzungen auf Bornholm, auf Gotland, Stonehenge … das Spiel von Licht und Schatten: wie Töne einer Melodie: das Wesentliche aber liegt zwischen den Tönen: der Raum, den die Töne aber erst erschaffen müssen.
Schattentheater spielt an dieser Grenze und mit dieser Grenze: mit der Lichtdurchlässigkeit von „Drüben“ und der materiellen Undurchlässigkeit im Diesseits. Doch das Undurchlässige, Schwarze bleibt nicht stumm: die Linie, die Kontur, der farbige Schatten sprechen umso stärker, die <em>Geste</em> gewinnt an Bedeutsamkeit.
Fürchterliche Vision: der Bildschirm des Computers als Glasscheibe einer Gefangenenzelle für lebenslänglich Verurteilte. Diese glauben, sie würden hinaus „in die Freiheit“ schauen.
Was, wenn Goethe wirklich mit seiner Liebsten nach Amerika ausgewandert wäre? Welche Werke wären dann nicht geschrieben, und welche nicht Geschriebenen wären dort in der Neuen Welt geschrieben worden? Aber welche Liebste? Charlotte von Stein? Anna-Amalia? Christiane? Henriette von Lüttwitz?
1.April 2018
Ein Sechstklässler der „Albert-Einstein-Schule“ zu einem Lehrer:
„Ich habe früher, als ich in der 1., 2. Klasse war immer gedacht, Sie wären Albert Einstein.“
Amüsierte Antwort des Lehrers:“ Und ? Wann und wie hast Du gemerkt, dass ich nicht der Einstein bin?“
„Irgendwann wurde mal Einsteins Geburtstag gefeiert, da habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt.“
Viertklässlerinnen und Vierklässler definierten heute im Gespräch „Pubertät“ wie folgt:
„Einer rülpst. Der andere furzt. Einer, der seine Stinkefüße hochhält. Einer, der viel schlafen muss. Einer schlägt, hat aber keine Agressionsprobleme. Sie schlägt, ohne Agressionsprobleme. Er schlägt nicht, hat aber Agressionsprobleme. Man hat ein Gedächtnis wie ein Emmentaler Käse. Man kriegt Pickel und einen Freund oder (als Junge) eine Freundin, die kann man dann aufkratzen (die Pickel!!!). Man wird faul und will nur in Ruhe gelassen werden. Man sitzt nur an der Technik, telefoniert oder spielt. Wenn man 14 ist kriegt man Stimmbruch.“
Dunkle Zauberwörter: wenn du sie triffst, machen sie, dass die Welt aufhört zu singen (pädagogisches Alltagsvokabular):
Könnensbeschreibung
Belehrungsordner
Hausaufgabenersatzkonzept
aktuelle „V.-V-en“ (=Verwaltungsvorschriften)
datengestützte Qualitätsgespräche
kompetenzorientierte Lernbeschreibung
prozessorientierte Kompetenzen
kompetenzorientierte Prozesse
kompressionsorientierte Potenzen
potenzorientierte Kompressionen
pflichtige Verweildauer
dauernde Verweilungspflicht
verweilende Pflichtdauer
pflichtige Dauerverweilung
angemeldete Bedarfe
Modderköppe und Muttihefte
„den Kindern die Wache ansagen“
Brotbüchsenkind